Geschichte eines Traums
Goya brauchte nicht das Ende des 20. Jahrhunderts abzuwarten; er musste schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsehen, dass sich die Kultur, vom Geist des Christentums geformt und am Leben gehalten wurde, keineswegs auf die Erfüllung der Heilsgeschichte zubewegt. Doch statt sich- wie an einen Rettungsring- an eine Ideologie zu klammern und das jeweilige Schlechte mit der jeweils gegebenen unvollkommenen Einrichtung der Welt zu erklären (sich also damit zu trösten, dass mit der Korektur der Umstände das Schlechteste dereinst endgültig ausgerottet werden kann), zog er die Schöpfung selbst zur Verantwortung. Seine Malerei ist nicht aufgeklärt, sondern apokalyptisch.
Der Saturn, dieses geistige Selbstportraits Goyas, taucht den immer um Lösungen und Aufklärung bemühten Geist in das Erlebnis der Unlösbarkeit und Dunkelheit. Das macht das Bild so erschreckend und so beunruhigend; und es wäre nicht so illusionslos, wenn es nicht vom ersten Blick an fühlen ließe, dass hinter dem ihm abgepressten Antworten immer das Unbeantwortbare spuken wird, dieses an einen menschenfressenden Riesen erinnernde, bedrohliche Gespenst.
Goyas Saturn wurde zu einem der erschreckendsten Schöpfungen der gesamten europäischen Kultur: Er will nicht in der Welt einen Platz für das Unheimliche suchen und sucht nicht innerhalb der Welt eine Erklärung für es (macht nicht das schlechte Funktionieren der Institutionen verantwortlich, kritisiert nicht die Gesellschaft, möchte nicht einfach aufklären), sondern entdeckt es in Gott selbst.
Buch
ISBN: 978-3-88221-267-9 9783882212679
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Veröffentlicht: 1994
Schlagworte: Goya, Malerei, Spanien, Sadismus, Kunst, Aufklärungskritik, Apokalypse, Kannibalismus, Antike, Teufel, Christentum