Der folgende Text wurde während eines Gesprächs mit Alexander García Düttmann und Morten Paul, das diffrakt und der August Verlag am 28. Oktober 2021 anlässlich der Veröffentlichung von Unworking und Die Hoffnungslosen in Berlin veranstaltet haben, vorgetragen und im Anschluss geringfügig bearbeitet.
Zum Beitrag »Über Hoffnung« von Alexander García Düttmann
Die Gegenwart ist von Subjektivierungsweisen des Aktiv-seins, des Könnens und der Ermächtigung geprägt. In der Verwirklichung eigener Potentiale realsiert sich das Subjekt. Autoren wie Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Giorgio Agamben haben dieses Angehalten-Sein zur Ausschöpfung eigener Vermögen als Machtform der Gegenwart problematisiert. Ihre Kehrseite ist die Erschöpfung. Die Aktivitäts-Imperative haben eigene Pathologien hervorgebracht: Erschöpfungskrankheiten wie Depression oder Burn-out sind die Folge, wie Alain Ehrenberg in seiner Studie zum „Erschöpften Selbst“ zeigt. Auf diese Pathologien ist mit Vorschlägen zu anderen Selbsttechniken geantwortet worden: mit Ratgeberliteratur zur Faulheit und schöpferischen Pause, zur Produktivität der Müdigkeit oder des Schlafes – scheinbar ein neues Lob der Passivierung als Reaktion auf die krankmachenden Aktivitätsappelle. Man könnte meinen, dass die Hierarchie, die der Dualität aktiv-passiv innewohnt, also die seit der neuzeitlichen Philosophie vorherrschende Höherschätzung des Aktiv- gegenüber dem Passiv-Seins damit ins Wanken gerät. Aber die Privilegierung der vita activa scheint nur oberflächlich ins Wanken zu geraten. Denn angesichts des partiellen Scheiterns des Subjekts an den Aktivitäts-Imperativen der Gegenwart wird, bei genauerer Betrachtung, die Passivität zu nichts anderem als zur neuen Ressource, um ein vertieftes Handeln oder eine bewusstere Aktivtät zu realisieren. Die traditionelle Abwertung der Passivität gegenüber der Aktivität ist damit keineswegs außer Kraft gesetzt ebensowenig wie die Selbstverwertung, die heute von einzelnen gefordert wird. Die heutigen Subjektivierungsweisen, die auf Können, Kreativität und Engagement, und eben nicht auf Verbot und Schuldigkeit beruhen, beuten nicht nur das Private, die persönlichen Bindungen, sondern auch die Freizeit und das Nichts-Tun bis in den Schlaf und die Träume hinein aus.
Will man stattdessen Passivität als Widerstandsform verstehen und die heutigen Subjektivierungsformen im Kern angreifen, hat man einen radikaleren Begriff von Passivität ins Spiel zu bringen: ein Denken radikalisierter Passivität – radikalisiert, insofern damit nicht das Gegenstück zur Aktivität, das Nichts-Tun gemeint ist, sondern ihre Voraussetzung und Überschreitung. Um diese radikale Form von Passivität zu bezeichnen, sprechen Maurice Blanchot und Emmanuel Levinas von „Archi- oder Ur-Passivität“ und versuchen damit zum einen die Sensibilität oder Vulnerabilität und zum anderen das Unvermögen philosophisch zu rehabilitieren. Es verbindet beide Dimensionen der radikalen Passivität: die Sensibilität und das Unvermögen, dass darin eine nicht gewählte, noch nicht einmal zur Wahl stehende Passivität zum Ausdruck kommt. Nicht auf freiwilliges Pausieren, Rückzug oder Streik wird also mit dem Begriff der radikalisierten Passivität rekurriert, vielmehr werden erlittene Zustände wie Ohnmacht, Schlaflosigkeit, Erschöpfung oder Trauer zu den Bezugspunkten einer potenzierten Passivität – potenziert, weil sie mit den Worten von Levinas eine Passivität ist, die passiver ist als die der Aktivität gegenübergestellte Passivität. Diese Passivität betrifft diejenigen Bedingungen des Tuns und solche Konditionen des Handelns, die durch das Tun und Handeln selbst nicht erreichbar sind, mithin jenseits des Handlungsvermögens liegen. Für Levinas offenbart sich darin die Bedingung von Ethik, für Blanchot ein Grundzug des Ästhetischen.
Radikale Passivität werde nach Levinas am offensichtlichsten in Alteritätserfahrungen, verstanden als Zugänglichkeit zum Unzugänglichen, wo das eigene Vermögen in Frage steht und in Unvermögen umschlägt. Außerdem zeige sich die radikale Form von Passivität in der Sensibilität oder Vulnerabilität, also einer konstitutionell wunden Empfindsamkeit, die es dem Subjekt unmöglich macht, nicht berührbar zu sein. Eine Überempfindlichkeit des Subjekts, die Levinas als Exposition und Ausgesetztheit beschreibt. Die sprachlichen Bilder, die er entwirft, um seine Überlegungen zu einer passivischen oder sensiblen Subjektivität zu veranschaulichen reichen von Verwundung und Besessenheit bis zur Atmung: Inspriration und Exspiration. Das Subjekt ist im Innersten dem Außen ausgesetzt, es ist Lunge im Sinne einer Einstülpung der sensiblen Oberfläche ins Innere, das also nicht abgeschlossen ist und dessen Geöffnetheit gegenüber dem Außen in es hineinreicht. Und Ausatmung, insofern das Selbst aus der Innerlichkeit herausgetrieben ist. Seine Sensibilität ist die Kondition seiner Erfahrung – und genau so muss man diese sensible Passivität oder Passibilität denken: als Element jeglicher Erfahrung.
In vergleichbarer Weise wird für Blanchot das Unvermögen zur produktionsästhetischen Kategorie, die er an der Schlaflosigkeit festmacht – im Unterschied zum Schlaf, der im Dienste der Aktivität steht. Schlaflosigkeit beschert eine Erfahrung der Ohnmacht und des Unvermögens: die Unmöglichkeit sich zurückzuziehen und zu zerstreuen – und Blanchot meint, dass diese Erfahrungen des exponierten Unvermögens für die Kunst, die Literatur, weitaus wichtiger sind, als die Erfahrung der Machbarkeit, weil man nur durch sie über das bereits Bekannte und Vorgezeichnete hinauskommt. Man muss eine Erfahrung des Un-Möglichen machen, um etwas anderes erfinden zu können, das nicht einfach nur ableitbar ist aus dem Bestehenden. Das gilt auch für die Philosophie oder das Denken, das an die Grenzen des Denkbaren geraten muss, um die eigenen passivischen Bedingungen zu erfahren und dort möglicherweise die Hoffnung für andere Denkweisen aufbrechen zu sehen. Man könnte hier vielleicht die Hoffnung der Passivität ausmachen: Das Unvermögen scheint das leise Versprechen in sich zu tragen, dass in der Suspension des Tuns und Vermögens eine sensible Offenheit entsteht, die das Eintreten von dem ermöglicht, was sich selbst nicht herstellen oder aktiv herbeiführen lässt.
Kathrin Busch, 18.11.2021