05.09.2023

Sprachüberaneignung und Sprachübereignung

Sprachüberaneignung und Sprachübereignung

Laudatio zum Irmtraud-Morgner-Literaturpreis 2023 für Marica Bodrožić // von Bernadette Malinowski

 

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Märtens,
sehr geehrte Frau Dr. Zierold (stellv. Amtleiterin des Kulturbetriebs),
lieber Herr Elschner (Vorsitzender Kulturbeirat),
sehr geehrte Frau Dr. Klüver (Lektorin Luchterhand),
sehr geehrte Damen und Herren, vor allem aber:
Liebe Marica Bodrožić, die wir mit der Gegenwart ihres Herzens bei uns wissen dürfen,

 

was in der Zeit lebt, offenbart sich nicht in der Sprache, schreibt Marica Bodrožić in ihrem Betrachtungsband Das Auge hinter dem Auge (7). Es lohnt sich, über diesen Satz ein wenig nachzudenken – dies umso mehr, als Zeit, Zeitlichkeit und Sprache, zumal die poetische, Zentren sind, um die die Werke Marica Bodrožićs immer wieder kreisen. Soll das heißen, dass das Zeitliche in der Sprache keinen Ausdruck finden kann? Dann fänden wir alle selbst keinen Ausdruck in ihr, und dann gäbe es auch keine Literatur.

Es ist hier, so meine ich, zunächst einmal etwas gesagt über dasjenige, woraus Sprache für Marica Bodrožić besteht: da sind zunächst die Buchstaben, jenem Vorzimmer Gottes, in dem sich mir mein eigenes Träumen, die Biographie meiner vormenschlichen Herkunft erzählt1 und in dem eine eigene Art des Staunens [beginnt], ein, für die Autorin gerade im Deutschen fühlbarer Echoraum der Ursprünge2; sodann die Wörter in der Form des wahren Worts, das jeder für sich finden muss, will er im Einklang lesen und leben lernen,3 und schließlich die Satzflüsse mit ihrem eigenen Uhrwerk4, in denen die Welt – ähnlich einer Kindheit ohne Uhren – nicht vorsortiert und akribisch bis in alle Einzelheiten verplant5 ist und in denen der Atem [...] als Zuarbeiter des Satzes wohnt6. Atem, Buchstabe und Wort sind, sonst ließe sich mit ihnen nichts Zeitliches sagen, überzeitlich. Buchstaben und Wörter haben wir in unserem mentalen Gepäck, aber sie überdauern uns. Unsere Sätze hingegen sind erst einmal, da sie ja ganz in der Zeit sind, keine Offenbarungen in der Sprache. Gelingen jedoch Sätze als Offenbarungen in der Sprache, sind sie der Zeit enthoben.

Was in der Zeit lebt, offenbart sich nicht in der Sprache. Hierin ist jedoch vielleicht auch das Grundprinzip der Entstehung des Werks formuliert, dessen Größe wir heute würdigen wollen: Wer in der Zeit lebt, kann sich in der Sprache nicht offenbaren. Das Erzählen aus der Geschichte des menschlichen Herzens ist eine Befreiung aus der Umzäunung der Biographie. Die deutsche Sprache baut in mir an einem Gerüst, an einem Lobgesang; an der Erinnerung der Seele7. Das in der Zeit gelebte Leben ist das Nacheinander, die Chronologie, die jederzeit in eine Textart überführt werden kann, die, so meine ich das jedenfalls zu spüren, für Marica Bodrožić vielleicht dasSchlimmste ist, was Menschen in diesem Bereich je erfunden haben: der Lebenslauf, den Kategorien der äußeren Zeit8 unterworfen, eingepfercht in die abgesteckten Sicherheitszonen [der] horizontalen Zeit9. Das Erzählen aus der Geschichte des menschlichen Herzens ist dagegen die Negation des Lebenslaufs, das Aufschwingen in die vertikale Freiheit10, das Eintauchen in die innere Zeit,11 die den Vogelblick ermöglicht, in dem die Zeit nicht horizontal, sondern vertikal zu uns spricht.12 Man betrachte die Präzision der Formulierung: Das Erzählen aus der Geschichte des menschlichen Herzens. Das menschliche Herz ist zwar das je eigene, aber es ist qua Mensch-Sein doch auch über sich hinaus, wenn man es so belauscht, wie es der dichterische Wahrheitswille erfordert: Deshalb ist beim Schreiben in einigen meiner Romane das Abtragen eines untergründig arbeitenden Palimpsests mein Hauptbestreben.13 Ähnlich einem Archäologen, der Erdschicht für Erdschicht abzutragen hat, will er die in der Tiefe vermuteten Kostbarkeiten freilegen und dabei nicht selten mit widerständigen Boden- und Gesteinsformationen zu kämpfen hat, so [wehrt sich] kondensiertes Sein [...] gegen die Zeit, obwohl es aus ihr und im Ringen mit ihr entsteht.14 Weit davon entfernt, einer Genieästhetik zu huldigen, bekennt sich die Literatin Marica Bodrožić dazu, dass Dichtung Arbeit – selbstbestimmte Arbeit – ist, die den notwendigen Umweg über den Mangel und die Ausgesetztheit zu ihrer unbedingten Voraussetzung hat:

Manchmal spüre ich förmlich, wie ich mich Schritt für Schritt mit den Jahren aus meiner konkreten Biografie lebend herausschreibe und Anfängerin meiner selbst werde. [...] Auszutreten aus der Zeit und den kollektiven Maßregelungen der anderen, das ist das größte Spiel meines Lebens.15

Ich denke, es wird aus diesen wenigen eingestreuten Zitaten, mit denen ich Sie, meine verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, gleich zu Anfang überfallen habe, deutlich, weswegen ich, aus Respekt vor Frau Bodrožićs Werk, keine Kurzbiographie der Autorin liefern werde, keinen Lebenslauf, wie es bei solchen Anlässen üblich ist. Was kann ich stattdessen tun?

Ich kann sagen, dass Marica Bodrožić mit zehn Jahren aus einem Land, das damals noch Jugoslawien hieß, genauer aus Dalmatien, nach Deutschland kam, wo sie sich das Deutsche, wie man so sagt, aneignete. Wenn sich jemand eine Sprache sehr gut angeeignet hat, dann spricht und schreibt er sie, wie es diejenigen tun, für die diese Sprache Muttersprache ist. Frau Bodrožić hat sich das Deutsche aber in einer Weise angeeignet, dass man hier durchaus von einer Sprachüberaneignung sprechen kann; sie selbst würde wohl nicht von ‚Aneignung‘ sprechen, sondern vielmehr davon, dass sich die Sprache ihr zugesprochen habe und sie irgendwann in jenem Raum, in dem die Wörter wohnen,16 angekommen sei. Mir jedenfalls scheinen Marica Bodrožić und die deutsche Sprache in einer Weise ineinander und miteinander verwachsen zu sein, dass sie sich gegenseitig Möglichkeiten des Sagens eröffnen, die es vorher nicht gab – und die eben nur in dieser einzigartigen Allianz möglich sind. Das Resultat eines solchen kompromisslos den Zwängen von Chronos, Macht, Ideologie und Fremdbestimmung entzogenen dichterischen Lebens ist ein Werk, das der Leser als Sprachübereignung erfährt: Man ist nicht nur bereichert in dem Sinne, dass man viele dieser ungemein präzisen, neuen und doch auch immer ganz leise gegen den Strich gebürsteten Formulierungen nicht mehr vergisst. Man ist auch durch diese Sprache und diese Weisen des Sehens sozusagen geradegebogen. Denn wer Palimpseste abträgt, entbirgt Schicht für Schicht das Darunterliegende und bringt es ins Unverborgene. Und Unverborgenheit ist, im Sinne der antiken griechischen Philosophie, die Wahrheit.

Wie im Falle der inneren und äußeren Zeit, so sind auch die Sprachen der Dichterin – das Serbokroatische ihrer Kindheit, das später hinzukommende Deutsche und schließlich – noch später – das Französische in komplexer Weise aufeinander bezogen: Dieses Fließen erlebe ich nur in der deutschen Sprache, in der die Wurzeln der Buchstaben ganz mit mir und meinem Nabel verbunden sind. Die Buchstaben sind Bewohner einer inneren Landschaft, in der das Slawische als Rhythmus und Hintergrundmusik lebt.17 Gerade durch den Entzug alles Vertrauten sei ihr das Größere der Freiheit [...] im Deutschen möglich geworden.18 Dass ihr die deutsche Sprache nicht nur ein Gedächtnis19, eine Erinnerung an ihre Kindheit als solche20 geschenkt hat, sondern ihr auch eine Art Schutzschild bot, das ihr immer mehr zu einem wärmenden Kleidungsstück21 wurde, erfährt die Dichterin vor allem Anfang der 90er Jahre, als in ihrer Heimat der Krieg wütet:

Manchmal gab es in der Tagesschau Berichte, bei denen man leicht verzögert die Stimmen meiner Landsleute hören konnte. Bevor der deutsche Kommentator einsetzte, wurde ich durch das Gewahrwerden meiner Muttersprache gezwungen, genau hinzuhören. Kaum hatte ich drei, vier Wörter aufgeschnappt, kroch im Herzen ein Krokodil herum, und ein Druck in der Brust schien meinen Brustkorb sprengen zu wollen. Ich habe nie genau verstanden, warum das Geschehen noch mehr weh tat, wenn ich es in der ersten Sprache, in der Sprache meiner Kindheit beschrieben bekam. Das Deutsche rührte mich auch. Aber mehr lenkte es mich in dieser Zeit ab. Es half mir, das Schreckliche zu verorten, es aus mir selbst zu verlagern, hinein in die Welt gewöhnlicher Belanglosigkeit, die es mir ermöglichte, einen ganz normalen achtzehnten Geburtstag zu erleben.22

Dass die erste Sprache jedoch ihr Mitspracherecht23 im Ich verankern konnte, verdankt sich erst der Begegnung mit der dritten Sprache, der französischen, die ihr Brücke gewesen ist für den sich schließenden Kreis, für das schwierige Anerkennen meiner Herkunft in mir selbst.24

Lassen Sie mich noch einmal kurz auf den Wahrheitsanspruch dieser Dichtung zurückkommen: Als Wissenschaftlerin bin ich um Wahrheit bemüht. Die Texte, die in der Wissenschaft entstehen, sind, auch wenn sie gut sind, keine Literatur. Wie liest sich dagegen eine dichterische Literatur, die um Wahrheit bemüht ist? Sie fordert einem, so meine ich, eine andere Intensität der Wachheit und Anstrengung ab als die Lektüre wissenschaftlicher Texte, die ja per definitionem den Ansprüchen terminologischer Präzision und logisch konsistenter Argumentation genügen müssen. Ganz im Gegensatz zu wissenschaftlichen Texten macht dichterische Wahrheit etwas ganz Wunderbares mit einem: Sie lässt einen aus der Zeit fallen:

Tito ist tot. Im Dorf sprach man seit Tagen über nichts anderes mehr. Der Fernseher lief, und Großvater begriff nicht, weshalb ein Mensch, der doch soeben gestorben war und den man bereits unter die Erde gelegt hatte, auf dem Bildschirm hin- und herlaufen konnte.25

Die Stelle hat natürlich eine gewisse Komik, aber man begreift sofort, dass hier nicht eine Anekdote über die media literacy des Großvaters erzählt wird, sondern dass hier eine Welt aus den Fugen geraten und das Unterste zuoberst gekehrt ist. Hier fällt eine Welt aus der Zeit, und wenn dies geschieht, sind die Folgen in der Regel fürchterlich.

Im Roman Das Wasser unserer Träume, in dem ein Koma-Patient an seiner Selbstrückgewinnung arbeitet, heißt es: Ein Grenzreisender bin ich, der weiß, dass die horizontale Kraft der Uhren die innere Stunde verhindert (S. 134).

Wer sich selbst zurückgewinnen muss, braucht Gewissheiten. Es ist dies vielleicht einer der wenigen Zustände, in denen man sich des eigenen Gewussten, dessen man sich sonst, wenn man in der Zeit ist, selbstverständlich bedient, vergewissern muss. Die Gewissheit, um die es hier geht, ist diejenige, um die vielleicht das ganze Werk Bodrožićs kreist: die poetische Ermöglichung der inneren Stunde gegen den Zeitpfeil, gegen die horizontale Kraft der Uhren.

Möglich wird dies nur, wenn man sich wie Marica Bodrožić ganz und gar unbedingt dem verpflichtet weiß, was sie die poetische Vernunft nennt, die permanent anschreibt gegen die gusseisernen Begriffe unserer Zeit, andichtet gegen die Unterwanderung der Wahrheit, die Entleerung der Worte, die Lüge und sich stattdessen dem Fließenden und Offenen überlässt und der Bewegung der inneren Wahrheit treu [bleibt], immer bereit, auf dem Weg in die Freiheit den Sprung ins Ungewisse zu wagen.26 Die poetische Wahrheit ist also keine, die uns Lesern hübsch angerichtet auf dem Tablett serviert wird. Vielmehr ist es eine Wahrheit, der wir, so wir denn wollen, als Weggefährten der Dichterin ein Stück weit folgen dürfen, dabei aber nicht einfach mit-laufend, sondern mit-denkend, mit-fragend, mit-sinnend und -fühlend, mit-sehend und -hörend, vor allem auch: mit-liebend – vielleicht auch bereit, selbst den Sprung ins Ungewisse zu tun.

In Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme, ein, wie Paul Reitter es treffend beschrieb, »großes Projekt des Denkens«,27 in dem die Ich-Erzählerin mit ihrem Lebensgefährten und ihrem ungeborenen Kind den innereuropäischen Fluchtweg Walter Benjamins über die Pyrenäen nach Port-Bou nachgeht, finden wir folgende Stelle über Menschen und Wege:

Wenn ein Mensch die Bereitschaft aufbringt, einen Weg zu gehen, dann schreibt er sein Leben in ihn ein. Und jeder, der nach ihm in der gleichen Intensität und Geradlinigkeit diesen Weg geht, später, wenn er als solcher auch für andere erkennbar wird, wird er von diesem Weg gelesen und liest die Gedanken des Weges.28

Die Erzählerin liest Benjamin anhand des letzten Weges, den dieser gegangen ist – er wird sich, nachdem ihm der Grenzübertritt nach Spanien verweigert worden war, in Port-Bou das Leben nehmen. Aber der Weg, hier ein europäisches Fluchtpalimpsest, liest auch sie, die auf ihm Gehende. Er wird zum Erzähler im Kopf der Erzählerin, er weiß, wie es heißt, mehr als meine schreibende Hand.29

Intensität und Geradlinigkeit sind Modalitäten des Wahrheitsanspruchs. Man kann das aber auch auf Texte beziehen, in die, wenn sie der Bereitschaft entspringen, diesen Weg zu gehen, ein Leben eingeschrieben ist, das wiederum andere, wenn sie hinreichend Intensität und Geradlinigkeit mitbringen, lesen können, aber auch von diesem, man möchte meinen: prüfend, gelesen werden. Im Gehen entspinnt sich das »Gespräch mit der Erde«, ein überaus reges, aber nie lautes Zwiegespräch mit der Natur, mit Menschen – Toten wie Lebenden –, mit Büchern, mit sich selbst. Ein Gespräch, das den Leser teilhaben lässt – und offen gestanden: der Leser kommt gar nicht daran vorbei, immerzu mitzudenken, mit zu erinnern, mitzuträumen, mitzumeditieren und mitzumurmeln und der Einladung zu diesem großen und immer größer werdenden Gespräch zu folgen. Unweigerlich musste ich während dieser Lesereise immer wieder an die Verse aus Hölderlins Friedensfeier denken: »Viel hat von Morgen an,/ Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/ Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.«

Dieses Ineinanderfließen verschiedenster Leben, verschiedenster Stimmen, verschiedenster Genres, verschiedenster Mitteilungsformen spiegelt sich in nahezu allen Texten Marica Bodrožićs wider. Es sind dicht gewobene Texturen, in denen viele Sprachen zusammen- und ineinanderfließen, ohne je ein babylonisches Stimmengewirr zu ergeben, vielmehr wird eben jenes vorhin schon angesprochene Gespräch hörbar, das – um noch einmal Hölderlins Verse aufzugreifen – fast schon »Gesang« ist: ein Zusammentönen (auch im schrecklichsten Leid), ein Chor, der aber der vielen Einzelstimmen bedarf, um »Gesang« hervorbringen zu können. Keine dieser Stimmen geht, wie gesagt, unter. Es bleibt eine jede ein Stern für sich.30 Und so ist es auch mit dem Text: Ein dem Auf- und Abstieg der Wanderung gleichender Sprachrhythmus, ein nahezu nahtloses Gleiten, Passieren, Ineinanderübergehen von Sätzen, die dabei jedoch nie ihr Besonderes und Einzelnes verlieren. Im Gegenteil: Gerade aus den weniger narrativen Passagen, also aus den Reflexionen und Meditationen ließe sich nahezu jeder Satz herausnehmen, absondern aus dem Zusammenhang, den er innerhalb dieser großen Partitur einnimmt, um über die in ihn fast schon aphorismenartig eingelassenen Gedankenperlen nachzudenken.

Wenn man einem so unbedingten dichterischen Werk begegnet, das der Wahrheit verpflichtet ist, kommt der Humor meistens zu kurz. Aber man erkennt doch an einem ganz leichten Augenzwinkern hier und dort, dass er der Autorin nicht fremd ist. In den Poetik-Vorlesungen Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe findet sich unter anderem folgende wunderbare Stelle:

Wenn ich an die Nöte meiner eigenen Jugend zurückdenke, erscheint es mir sehr rätselhaft, dass so viele Menschen unserer Zeit krampfhaft nur jung sein wollen. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie viel ich damals gelitten und dass ich gegen die Entwicklung meines eigenen Körpers heftig aufbegehrt habe. Im Grunde habe ich sein Schweigen, seine Verdinglichung gewünscht, um mich in mir selbst vor den Augen der anderen verstecken zu können. Nach der erschütternden Entdeckung, dass ich ein Mädchen war und sich daran nichts ändern lassen würde, schlug das Schicksal ein paar Jahre später noch einmal gnadenlos zu, als ich einen Busen bekam. Wie um Himmels willen war das wieder rückgängig zu machen?31

Wir sind heute, am 90. Geburtstag Irmtraud Morgners, zusammengekommen, um uns für das Werk der großen Sprachübereignerin Marica Bodrožić mit dem Irmtraud- Morgner-Literaturpreis zu bedanken. Die beiden Schriftstellerinnen, dessen bin ich mir ganz sicher, hätten sich viel zu sagen gehabt: Die »planetare Sicht« auf die Welt, wie Morgner dies nannte, das Gespräch zwischen Zeiten und Räumen, Dingen und Menschen, Imaginärem und Wirklichem, das dichtende Leben als ein In-Bewegung- Sein, als ein Schreiben-Gehen (Bodrožić), als ein Zuhalten vielleicht auf das, was Morgner die »Utopie Mensch«, Bodrožić »das visionäre Wir«,32 das ›Heiligganze‹33 nannte. Gewiss ist es kein Zufall, dass ich selbst beim Lesen – beim ›Lesen-Gehen‹ – der Bücher von Marica Bodrožić immer wieder an Friedrich Hölderlin gedacht habe. Und es schien mir wie eine glückliche Fügung zu sein, eine Art Zusammenfügung dieser beiden großen Schriftstellerinnen der deutschen Literatur, als mir folgende, von Irmtraud Morgner in einer Skizze für ihren geplanten, aber nicht mehr vollendeten dritten Roman der Salman-Trilogie zitierten Zeilen von Hölderlin in die Hände fielen:

»Um Fragen zu stellen zum Finden der Wahrheit, muß man Fragen an das Schöne stellen können. In der Welt lesen heißt: in einem Menschen lesen. Denn die Liebe zur Welt hält der Mensch nicht aus, wenn er nicht eine liebende Seele hat.«

Liebe Marica Bodrožić, herzlichen Dank für Ihre Offenbarungen in der Sprache!

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Bernadette Malinowski, geboren 1965 in Augsburg, ist Germanistin und seit 2011 Professorin für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU Chemnitz.

 

 

1 Sterne erben, Sterne färben, 9.
2 Ebd., 17. Vgl. auch 91: Beim Beten des Vaterunser 1984 im Frankfurter Dom: „Ich spürte zum ersten Mal den Raum, in dem die Wörter wohnen. Wußte, daß sie eine Heimat wie wir Menschen haben. Eine Herkunft. Ein leuchtendes Gebiet. Sie brauchten keinen Paß wie wir, ihre Identitätskarte ist ihre eigene Wahrhaftigkeit.“ Vgl. ebd., 126.
3 Das Auge hinter dem Auge, 26.
4 Das Auge hinter dem Auge, 7.
5 Ebd.
6 Sterne erben, Sterne färben, 11.
7 Sterne erben, Sterne färben, 9.
8 Poetische Vernunft, 63.
9 Poetische Vernunft, 26. Dies im Übrigen auch die Zeit, in der „das Alter und das Älterwerden [...] als Verlust bezeichnet“ werden: „Das Alter ist vor diesem Hintergrund nur eine vorgeschobene Agenda für ein ungelebtes, ein in sich zementiertes Leben, das die Verwandlung, den Transit ins Innere scheut. An dieser Achillesferse nistet sich leicht die Angst ein. Über das Alter spricht man dann wie über eine unvermeidliche Krankheit“ (ebd., 62).
10 Ebd.
11 Ebd., 55.
12 Ebd., 55.
13 Poetische Vernunft, 80. Vgl. Sterne erben, S. 56: „Das Leben selbst ist eine [...] geistige Jahreszeit, eine fortwährende Häutung des Inneren; dieses Innere ging spiralenförmig immer weiter in seine eigene Tiefe, und hatte ich es einmal gefunden zu haben geglaubt, entzog es sich wieder, zeigte wieder eine andere Schicht, so daß ich einmal dachte, das Innere sei verwandt mit dem Unendlichen (mit dem Unendlichkleinen und mit demUnendlichgroßen).“
14 Poetische Vernunft, 63. Der „poetische Satz“ ist aus diesem Grund immer „etwas Neues, Drittes und Androgynes. Das Dritte ist die Schnittmenge aus gelebter Vergangenheit und einer imaginären Zukunft. Das eine ist bereits entschwunden, das andere noch nicht entstanden, aber umso anwesender und realer ist das Dritte. Die Schnittmenge. Das Hier und Jetzt. Die Offenheit und Kraft neuer Möglichkeiten. Die verstrebten Botschaften von Chronos und Kairos“ (ebd., 66). Vgl. ferner die Ausführungen über das „reflektierte Leben“, das „aus den Fängen der Chronologie“ befreit (ebd., 74) sowie über den „Verstand“, der – „und das ist seine Arbeit – Chronologien verpflichtet. „Am Ende ist nur die geistige Erfahrung von Bestand, das bloß erlernte Wissen löst sich im großen Gedächtnis auf“. Hingegen ist es die „ureigene Erfahrung“, die uns „auf fruchtbare Weise in die inneren Zeitläufte einschleust“ und uns „dauerhaft mit dem Intellekt und anderen uns aus der Luft zuarbeitenden Dimensionen des Seins verbindet“ (ebd., 105). Vgl. v. a. S. 154 f. (ggf. vorlesen).
15 Poetische Vernunft, 165f.
16 Sterne erben, Sterne färben, 91.
17 Sterne erben, 12.
18 Ebd., 17.
19 Vgl. ebd., 42.
20 Ebd., 55. Vgl. v.a. S. 137: „Mit deutschen Wörtern zu den minzehaltenden Händen meiner Großmutter zurückzukehren, zum ersten Mal seit ihrem Tod in Form von Wörtern bei ihr zu sein, ist getragen von einem wachen Glücksgefühl. Darin erzählt sich mir die Berührbarkeit der unsichtbaren Welt.“
21 Ebd., 105.
22 Ebd., 30.
23 Ebd., 75.
24 Ebd., 61. Zweisprachigkeit bedeutete aber auch „zweifaches Leben“ (vgl. hierzu die eindrucksvollen Passagen auf S. 105f. sowie 139 f.
25 Tito ist tot, S. 7.
26 Poetische Vernunft, 20. Vgl. auch ebd., 200: „Die poetische Vernunft ist deshalb so innerlich radikal, weil sie keine falsche Geborgenheit anbietet, sondern unsere Freiheit herausfordert und die hohe Wahrheit nicht meidet, die dort anfängt, wo das Unerwartete geschieht. Wo eigentlich sonst könnte es je geschehen?“
27 Die Arbeit der Vögel, Klappentext.
28 S. 113.
29 Arbeit der Vögel, 14.
30 So Bodrožić in Anlehnung an Danilo Kiš.
31 S. 92.
32 Mein weißer Frieden.
33 Vgl. Die Arbeit der Vögel, 181.

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