21.09.2023

Signe Gjessing » Tractatus philosophico-poeticus«

Signe Gjessing » Tractatus philosophico-poeticus«

Anmerkungen zum Gedicht Punkt für Punkt

In ihrem Langgedicht »Tractatus philosophico-poeticus« nimmt sich die dänische Lyrikerin Signe Gjessing des poetischen Potenzials und der formalen Strenge von Ludwig Wittgensteins Frühwerk an und eröffnet eine Dichtung, die jenem für Wittgenstein jenseits der Sprachgrenze liegenden »Unsinn« eine poetische Kraft verleiht. Inspiriert vom »Tractatus logico-philosophicus« formuliert sie 7 Punkte – eine »Komposition über die Entstehung, das ekstatische Da-Sein und die abschließende Vernichtung einer gedachten Welt.«
Im vorliegenden Beitrag liefert Gjessing, quasi als Erweiterung ihres Gedichts, Anmerkungen zu jedem Abschnitt, die einen noch tiefer gehenden Zugang zu ihrem Werk ermöglichen.

 

1. Die Welt sieht sich vor, entsteht dann, schön.

2. Das Sein übergeht hier das Offensichtlichste.

3. Die Welt ist importiert.

4. Der Ursache Nächster ist frei.

5. Ja, wir sind in der fraglichen Welt, ja, in der betreffenden.

6. Die Welt ist die Nummer 1.

7. Das Alles erweckt den Eindruck einer Welt.1.

 

1.

Punkt 1 definiert den ontologischen Status der Welt als einen bloß möglichen. Die Welt in Punkt 1 ist transzendental, noch bevor sie existiert; sie ist offenkundig, das heißt, eine naheliegende Möglichkeit. Sie ist also existenter als die bloße Möglichkeit; das Sein der Welt besteht darin, dass ihr die besondere Eigenschaft der Möglichkeit innewohnt, vgl. Punkt 1.1. Das Transzendentale ist auf die gleiche Weise ekstatisch wie die Transzendenz. Die Ekstase enthält gleichzeitig ein Sich-selbst-Sein und eine Überschreitung oder eine Voraussetzung des Seins. Indem man die Welt als bloße Möglichkeit definiert, wird der Unterschied zwischen der gedachten und der aktuellen Welt aufgehoben und damit auch der Unterschied zwischen der Fähigkeit der Poesie, Welten zu erschaffen, und der Erschaffung der Welt selbst. Leibniz’ mögliche Welt wird am Ausgangspunkt mit der aktuellen identifiziert. 

 

2.

Das Sein, nicht die Welt, wird in Punkt 2 behandelt. Vorgestellt wird die Idee, dass das Eigentliche stets außerhalb ist. Damit wird Wittgensteins Idee, dass der Wert außerhalb der Grenzen der Welt liegt, weitergedacht. Die Verbindung, die die Welt zum Sein hat (vgl. Punkt 1.11) und durch die sie entsteht, versetzt die Welt in einen exilierten Zustand, da die Verbindung eine Relation ist, keine Identifikation.

 

3.

Das Erlebnis, dass Existenz ausschließt, führt zu der Schlussfolgerung, dass absolute Existenz (die Welt als: Alles, was existiert) ausschließt. Damit wird eine Version des Mengenlehreproblems vorgestellt. Die Russellsche Antinomie: Ist die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, in sich selbst eingeschlossen? Die Tatsache, dass, wenn ein Alles gesetzt wird, es ein Außerhalb gibt, führt zu einer Reihe von Punkten, die von Bewegung geprägt sind, während in Punkt 3 eine transzendente ekstatische Handlung mit der Welt vorgenommen wird. Die Viele-Welten-Idee wird über die Ekstase eingeführt, und wir sind in den vielen Welten. Obwohl die Ekstase stets vorausgesetzt war, kommt es erst in Punkt 3 zu einer Veränderung in der Gleichsetzung von Einheit und Welt. Die vielen Welten werden in Punkt 3 aus dem Prinzip der einen Welt heraus betrachtet und adressiert.

 

4.

Die Frage der Freiheit und Notwendigkeit als Kausalität (Beziehung von Ursache und Wirkung) wird kurz und poetisch behandelt. Der freie, erschaffende Gedanke wird mit der Erschaffung der Welt gleichgesetzt; ebenso wird die Erschaffung der Welt selbst als Kausalbeziehung verstanden, Bindeglied ist der freie Wille.

 

5.

Die Welt als Einheit wird, im Gegensatz zu Punkt 3, aus den vielen Welten heraus betrachtet. Es erfolgt eine Annäherung an das Prinzip der einen Welt.

 

6.

Der Welt wird ein Vorrang vor den anderen Welten eingeräumt. Wie in Punkt 1, wo das Sein der Welt lediglich darin bestand, dass ihr die besondere Eigenschaft der Möglichkeit innewohnt, ist die Einheit und Souveränität der Welt lediglich ein Zustand der Hervorhebung.

 

7.

Das Prinzip des Alles wird behandelt. Eine Teilkonklusion lautet: Die Welt ist nicht zwangsläufig Alles, aber Alles ist zwangsläufig die Welt. Die Idee, dass die Welt Alles ist, obsiegt. Auch das Alles ist ekstatisch, wie es in der Schlussfolgerung 7.8 formuliert wird, aber als eine Erfahrung. Der letzte Punkt enthält das Eingeständnis eines Affekts in der Frage des Alles.

 

Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle

_

 

Signe Gjessing, 1992 geboren, debütierte 2014 mit dem Gedichtband Ud i det u-løse, für den sie den Bodil og Jørgen Munch Christensens Debutantpris erhielt.

Peter Urban-Halle, 1951 in Halle (Saale) geboren, wuchs in Dortmund auf und studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Kopenhagen. Er ist Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Dänischen und wurde mit mehreren Übersetzerpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.

zurück