Im Rahmen ihrer Reihe gegen:WART in der Stadtbibliothek Innsbruck hat das Kulturkollektiv ContrApunkt ein Kurzinterview mit dem Philosophen Marcus Steinweg geführt. Wie kommt er zu seinen Themen, was bedeutet "Realität" für ihn, wie ist sein Standpunkt zum Verhältnis Philosophie – Politik? All das wird auf engstem Raum angerissen. Eine Unterhaltung, die zum Weiterdenken anregt.
Kulturkollektiv ContrApunkt: Wie kommst du auf Themen, mit denen du dich beschäftigst, bzw. ab wann verdichtet sich ein Thema für dich, dass du es für dich bearbeitest?
Marcus Steinweg: Einige meiner letzten Bücher sind in Notizen geschrieben. Es sind Notizen zu allem Möglichen: Theater, Simone Weil, Sex, Schreiben, Ohnmacht, Marguerite Duras, Kino, Trauer, Narzissmus, Diversitätskapitalismus, Politik etc. Es gibt kein Thema, das mich nicht interessiert. Allerdings nähere ich mich jedem Thema in einer Mischung aus Interesse und Ratlosigkeit. Ich versuche, zu verstehen. Zugleicht gibt es Konstanten = Motive, die sich durchhalten. Eine Konstante ist, was ich die Inkonsistenz unserer selbst wie der Welt nenne oder der Seinstotalität.
KC: Was sind aktuelle Themen, mit denen du dich gegenwärtig auseinandersetzt?
M.S.: Gerade habe ich mit einer Freundin ein Buch zu Kafka abgeschlossen (es erscheint im kommenden Herbst). Kafka ist der Autor, der jeden, der ihn liest, mit seinen Aporien bedrängt. Er rückt einem auf den Leib, lässt einen schlecht schlafen. Dafür liebe ich ihn. Ein Autor, mit dem ich nicht fertig werde.
KC: Gibt es noch etwas, dass du zu unserer gemeinsamen Veranstaltung festhalten oder anmerken möchtest?
M.S.: Ich fürchte meine Gesprächspartnerin verärgert zu haben, was mir leidtut, sofern es zutrifft. Wir beide haben von Derrida wichtige Impulse empfangen, glaube ich. Ich unterscheide zwischen Dekonstruktion und Dekonstruktion light. Unter Diet Deconstruction verstehe ich das litaneihafte Zurückfallen ins Vorkritische, das wir heute an westlichen Universitäten wie im Kulturraum insgesamt erleben: ein narzisstisches Selbst- oder Fremdbezichtigungsritual, das an den Problemen der Menschen vorallem in nicht westlichen Gesellschaften konsequent vorbeisieht. Ich nenn das die Gute-Gewissens-Linke: Gutes Gewissen durch schlechtes Gewissen haben. Ich bin Heiner-Müller-links, denn ich liebe seinen Satz: „Was ich nicht ertrage, ist die Unschuld der Menschen.“ Zum Stichwort Kritik versäumte ich vielleicht zu sagen, dass es sie nur als Kritik der Kritik gibt = als Selbstimplikation des kritischen Subjekts in die kritische Dialektik, statt als Selbstviktimisierungsroutine, die sich als links missversteht.
KC: Was ist dein Zugang zu politischer Arbeit?
M.S.: Ich bin Philosoph, kein Politiker. Als Philosoph bin ich mir der Politizität des Denkens bewusst. Zugleich stimme ich Jean-Luc Nancy zu, der sagt: „Wenn alles politisch ist, ist nichts politisch.“ Die Allespolitisierung ist eigentlich, in ihrem Kern, Entpolitisierung.
KC: Unser Motto/Slogan heißt Against Reality: Was bedeutet das für dich?
M.S.: Es bedeutet, dass Realität der, um das Wort Lacans aufzunehmen, Herrensignifikant unserer Zeit ist. Wer sich auf Realität beruft, hat schon fast zu denken aufgehört. Realität ist immer autoritär. Man muss sie ernst nehmen, um ihren Autoritarismus zu brechen.