22.12.2022

Im Widerspruch und gleichranging

Im Widerspruch und gleichranging

Vier Fragen an Can Xue

von Annette Hug

 

Wie weit ist Peking von Zürich entfernt und von Frankfurt? Um die Frage zu beantworten, müsste zuerst geklärt sein, ob Distanz als materielle Kategorie verstanden wird – als geographische Entfernung, in Kilometern gemessen – oder als geistige Dimension, vielleicht sogar als Maß der Verwerfungen zwischen politischen Gebilden. Die Pandemie hat alle drei Dimensionen beeinflusst. In der Zeit, in der dieser Text entsteht, fällt die russische Armee in die Ukraine ein. Fern ist ferner geworden, die Grenzen zu China bleiben fast undurchdringlich. Der Ton der globalen Diplomatie wird schärfer. Was hier folgt, ist also kein Gespräch im eigentlichen Sinn. Weil Reisen und Sich-Begegnen nicht möglich sind, müssen schriftliche Nachrichten genügen. Das mindeste, was wir dabei tun können, ist dem geschriebenen Wort mehr Beachtung schenken – also die Zeichen, die hin und hergehen, langsamer und genauer lesen. 

Die Autorin Can Xue wurde in englisch-sprachigen Zeitschriften schon mehrmals ausführlich befragt. Oft gab eine Frau Auskunft, die mit bürgerlichem Namen Deng Xiaohua heißt und die für ihre Werke das Pseudonym Can Xue wählt. Manchmal gibt Frau Deng über Can Xue in der dritten Person Auskunft. Wie ist das zu verstehen?  

Als ich von Daniel Medin eine Email-Adresse erhielt, um einen Austausch zu beginnen, schrieb ich auf Englisch an Can Xue. Es antwortete, sehr freundlich, Deng Xiaohua. Sie werde sehr gern vier Fragen zu Can Xue beantworten. Ich versuchte mich beim Formulieren einer Auswahl von Fragen an eine vermeintlich fixe Sprachregelung zu halten. In den Antworten, die ich auf Chinesisch erhielt und die Eva Schestag ins Deutsche übertrug, gibt nun ein Ich über sein eigenes Schreiben Auskunft. Nach dem ganzen Vorlauf und der Lektüre des Romans »Liebe im neuen Jahrtausend«, in der packenden Übersetzung von Karin Betz, erreicht mich dieses Ich wie eine Figur von Can Xue: als überraschend und wahrscheinlich wandelbar. Wer schreibt, wenn es beim Schreiben gut läuft? Wenn viel passiert, was niemand hätte planen oder plotten können?

Mich fasziniert an chinesischer Gegenwartsliteratur, unter anderem, dass da Positionen und Erzählweisen der Literaturen des Westens, die mir notwendig erscheinen, in anderen Verarbeitungen und Weiterführungen neu zu entdecken sind. So ist erlebbar, dass die Moderne vielgestaltig ist, an unterschiedlichsten Orten stattgefunden hat und bis heute stattfindet – dass die Welt mehrere Zentren des Denkens hat und die Zukunft von unterschiedlichen, gleichzeitigen Traditionslinien geprägt sein wird. 

»Liebe im neuen Jahrtausend« spielt in einer Großstadt, die als chinesische Stadt zu erkennen ist, und gleichzeitig könnte sie eine Hauptstadt des 21. Jahrhunderts sein, so wie Paris für Walter Benjamin die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts war. Ich frage Can Xue im Folgenden nach den «Heimatorten», aus denen die Stadtbewohnerinnen kommen, ich hätte auch danach fragen können, was die »Fabrik« für eine solche Stadt bedeutet, ein »Freihafen«, eine »Höhle« oder ein »Wellnesshotel«. 

Can Xue sei es um das Ganze zu tun, ist immer wieder zu lesen. Sie strebe nach dem universell Menschlichen. So erstaunt es nicht, dass einige ihrer Texte nicht in China, sondern zum Beispiel in einem unbestimmten Amerika oder einem geographisch gar nicht zuzuordnenden Raum spielen. Während im angelaufenen Krieg die Begriffe »Westen« und »Osten«, »China« und »universelle Werte« von propagandistischen Reden neu aufgesogen und in Stellung gebracht werden, ist dieses Gespräch ein Versuch, die eigenwilligen Verbindungen besser zu verstehen, die Can Xue durch ihr Werk geschaffen hat. 

 

Annette Hug: Can Xue hat den Prozess ihres Schreibens oft »Performance« genannt. Wie hat sie diese Praxis entdeckt und entwickelt? Hat sie sich im Lauf der Zeit verändert? 

Can Xue: Als ich mit dem Schreiben meines Erstlingswerks »Gelbe Schlammstraße« begann, entdeckte ich mein Talent, den Körper zur freien Performance einzusetzen. Im Anfangsstadium des Buches schrieb ich im Stil des Realismus, doch schon bald stellte ich fest, dass mich dies zu sehr einschränkte, mir zu wenig Freiheit gab. Daraufhin wandte ich mich wie von selbst der »Écriture Automatique« zu. Nach diesem Richtungswechsel ging mir das Schreiben ganz glatt von der Hand, und ich schuf diesen Roman in einem Atemzug (in mehreren Monaten). Von da an, das war mir unmittelbar klar, konnte ich nie wieder im realistischen Stil schreiben und wende seither nur noch die Technik der »Écriture Automatique« an. Für mich ist die »Écriture Automatique« wie der Einsatz meines Körpers bei einer freien Performance. Sie folgt einer rigorosen, emotionalen Logik und ist eine uralte, höchst kreative Kunstfertigkeit, die die Chinesinnen zwar meisterhaft beherrschen, die aber zugleich fest mit der westlichen Kultur verbunden ist. 

Annette Hug: Das Wort »modern« nimmt auf dem Weg zwischen Europa und den USA, Lateinamerika und China unterschiedliche Bedeutungen an. Der englische Begriff »modernist« erweckt die Vorstellung einer literarischen Bewegung, die aufkam und wieder verschwand. Im Deutschen sprechen wir von der »Moderne« oder der »Klassischen Moderne«. Can Xue verortet sich in englischsprachigen Interviews in der Tradition der «modernist literature». Was bedeutet der Begriff für sie und warum ist er heute relevant? 

Can Xue: Mein Werk schöpft nicht nur aus den Quellen der Kultur meines eigenen Volkes, sondern insbesondere auch aus der westlichen und der russischen Literatur. Der von mir vertretene Begriff einer »modernistischen« Literatur ist im weitesten Sinne zu verstehen. Meiner Meinung nach steht in China der klassische Roman »Traum der Roten Kammer« auf dieser literarischen Ahnentafel und im Westen die biblischen Geschichten, Dantes »Göttliche Komödie«, Shakespeares »Julius Cäsar« oder »Hamlet«, Cervantes »Don Quijote«, die Erzählungen von Borges, die Erzählungen und Romane von Kafka, die Erzählungen und Romane von Calvino, Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, und in Russland Gogols Erzählungen, Tolstois »Anna Karenina«, Dostojewskijs »Die Brüder Karamasow« und so weiter und so fort.  Was in diesen literarischen Werken erreicht wird, geht den Klassikern der westlichen Philosophie voraus.

Annette Hug: Als ich »Liebe im neuen Jahrtausend« las, fiel mir die Häufigkeit des Wortes »Heimat« auf. Wir haben in der Schule gelernt, dieses deutsche Wort sei schwer ins Englische oder Französische zu übersetzen. Das sei ein typisch deutscher Begriff für einen geschützten Ort auf dieser Welt, dem wir absolut zugehören. Der Bewegung Ihres Textes folgend verfiel ich dem Zauber von Heimatorten, die ihre Gestalt verändern, die verloren gehen und dennoch bestehen bleiben. Weit davon entfernt, ideale Orte zu sein, scheinen sie für die Großstadt und ihre Einwohnerinnen dennoch notwendig zu sein. Wie nehmen chinesische Begriffe wie 故乡(guxiang) Bezug auf die spezifische Erfahrung der chinesischen Geschichte. Was ist deren universale Anziehungskraft oder Bedeutung? 

Can Xue: Das Wort »Heimat« vertritt in meinem Roman zweierlei Heimat, die des Geistes und die des Körpers. Der Unterschied zu dem Begriff der geistigen Heimat der Deutschen ist dennoch sehr groß. Chinesen sind von Natur aus ein materielles Volk. Das Wort »Materie« wurde in der klassischen deutschen Philosophie gering geschätzt. Doch wofür ich in meinem Roman eintrete, ist eine neue Auffassung von Philosophie. Ich hebe die Materie, also den Körper des Menschen und den Körper der Natur, auf die im philosophischen Sinne höchste Stufe, so dass sie mit dem Geist gleichrangig ist, und die beiden einander wesentlich sind, und einen absoluten Widerspruch bilden. Eine solche Weltanschauung ist mein Ideal und meine Ambition. Insofern ist die Heimat in meinem Roman eine im ursprünglichen Sinne materielle Welt. Der Geist an sich kommt aus diesem schönen Urstoff, und der Urstoff an sich ist wiederum voller Geist. Eine solche Heimat ist auch die Stätte der freien Performance, der Ursprung des »Schönen«.  

Annette Hug: In einem von Pauline Kerschen zitierten Interview beschreiben Sie Ihre Arbeit als »die Frucht der Liebe zwischen der östlichen und der westlichen Kultur, deren Bilder einen völlig neuen Typus des menschlichen Selbst und Freiheitsmechanismus vorantreiben.« Was braucht es heute, um die Liebe und den Austausch zwischen östlichen und westlichen Kulturen zu fördern?  

Can Xue: Von Kindheit an liebe ich die westliche Literatur und Philosophie. Denn die westlichen Literaten und Philosophinnen haben den Geist bis zum Äußersten entwickelt. Aber durch meine vierzigjährige Praxis als Schriftstellerin und meine Forschung auf dem Gebiet der Philosophie ist mir klar geworden, dass die westliche Kultur allein bei weitem nicht genügt, um die Menschheit aus der prekären Situation, mit der sie gegenwärtig konfrontiert ist, zu befreien. In dieser Kultur ist der Stellenwert des Materiellen nicht hoch genug. Was ist denn echte Materie? Echte Materie ist die Leibhaftigkeit der Natur sowie der Körper des Menschen. Die Leibhaftigkeit der Natur vermag sich selbst nicht auszudrücken, aber sie hat eine ganz spezifische Funktion und Gesetzmäßigkeit, die beide durch den Geist stellvertretend zum Ausdruck gebracht werden. Doch ihre Funktion und Gesetzmäßigkeit ist von der Funktion und Gesetzmäßigkeit des Geistes selbst völlig verschieden! Faktisch ist die Gegebenheit des Geistes wie folgt: Er vermag [sich] nur auszudrücken, aber nicht wie Materie in der Wirklichkeit real zu existieren. Wenn er in der Wirklichkeit real existieren wollte, dann vermag er das auch nur durch Materie. In meiner Philosophie verbinden sich diese beiden Dinge notwendigerweise und bilden einen absoluten Widerspruch. Beide Aspekte sind einander wesentlich und wirken mit gleicher Kraft einander entgegen. Wie der Dichter Dante schrieb: »sie waren zwei in einem und er war einer in zweien.«  Ich sehe im Alltag die missliche Lage, in der sich die chinesische materielle Kultur befindet. Gleichzeitig erlebe ich die missliche Lage, in der sich die westliche Geisteskultur befindet. Den einzigen Ausweg für die Menschheit sehe ich darin, künftig die westliche Kultur mit der uralten chinesischen Kultur zu verbinden und zuzulassen, dass die beiden mit gleicher Kraft einander entgegenwirken und dynamisch miteinander interagieren. Die Methode, um dieses Ideal zu erreichen, ist: sich beständig und beharrlich auszutauschen und miteinander zu kommunizieren, die Unzulänglichkeiten der eigenen Kultur kritisch zu betrachten und von den Stärken der anderen zu lernen. 

 

Ausgerechnet mit diesem Satz geht der schriftliche Austausch zu Ende. Ich wünschte mir einen Ort, um in Ruhe nachzufragen, worin Can Xue das Missliche der Lage heute genau sieht. Es bleibt mir aber nur der Dank für die ersten Antworten und die Hoffnung, dass sich die Distanz zwischen Peking und Zürich in Zukunft wieder verringert – durch ein Ende der kriegerischen Aggression, durch die Möglichkeit, Grenzen zu öffnen. Aber auch durch eine Verdichtung kreuz-und-quer-gehender Ahnenlinien, und einer stärkeren, weniger einseitigen Resonanz zwischen den literarischen Traditionen, auch den modernen. 

Was in solchen Querlinien passieren kann, erlebe ich beim Versuch, die einfacheren Passagen von Can Xues Antworten selbst auf Chinesisch zu lesen. Da fällt mir zum Beispiel auf, dass sich der nie ganz eingedeutschte, ungestüm gebliebene Ausdruck »écriture automatique« auf Chinesisch in ein ganz einfaches Wort verwandelt: 自动写作. Der Automat oder gar das Auto sind daraus verschwunden. Sich selbst bewegendes Schreiben, besagen die vier Zeichen, wobei ich unsicher bin, ob das Selbst, 自, das ganz am Anfang steht, zur Bewegung anstösst und wer das denn wäre. Was mich die Antworten von Can Xue nochmals verbinden lässt: Der philosophische Anspruch, den Widerspruch zwischen dem Geistigen und dem Materiellen nicht zu bannen und nicht aufzulösen, sondern auszuhalten, führt direkt zu einer Praxis des Schreibens, die dieses »Aushalten« in Bewegung setzt. Ich stelle mir vor, dass im Inneren einer Schriftstellerin ein Weltenkampf stattfindet, in dessen Verlauf so vielfältige, kräftige, überraschende Figuren und Ereignisse entstehen wie wir sie in »Die Liebe im neuen Jahrtausend« erleben.

Vertrackte Querlinien durch westliche und östliche Archive zeigen sich als Antwort auf meine Frage an Eva Schestag, wie sie zu der deutschen Übersetzung des Dante-Zitats gekommen sei. Es dient Can Xue zur Bekräftigung des zentralen Gedankens, dass die beiden Aspekte Geist und Materie »einander wesentlich« sind und »mit gleicher Kraft einander entgegenwirken«. Auf Chinesisch lautet das Zitat: »两个是一个,一个又分裂为两个«. 

Die Suche nach dieser Zeile in einer deutschen Dante-Übersetzung war nicht einfach. Eva Schestag antwortete: »Leider blieb die Recherche nach der Stelle in einer chinesischen Übersetzung der Divina Commedia durch Eingabe des chinesischen Zitats in Google ohne Ergebnis.« Daraufhin schickte Eva ihre Frage bei Bekannten in der Romanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Umlauf. Ihre erste wörtliche Übersetzung der Zeile aus dem Chinesischen erinnerte einen Dante-Übersetzer zunächst an die zweite Strophe aus Goethes Gedicht »Gingko Biloba«: 

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?

 Eva war klar, dass es das nicht sein konnte: »Man hätte das anders ins Chinesische übersetzt. Auch würde kein Mensch in China Dante mit Goethe verwechseln. Außerdem gibt es so viele Übersetzungen der Werke Goethes ins Chinesische, dass ich die Stelle bei meiner Google-Suche hätte finden müssen. Daraufhin gab ich eigentlich die Hoffnung und die Suche auf und fragte mich, ob es womöglich gar kein Zitat, sondern eine unspezifische Erinnerung an eine Lektüre oder ein Gedanke aus einer Art kollektivem Gedächtnis oder Wissensschatz sein konnte? Irgendwie erinnert mich die Stelle an Laozi, Kapitel 42: 

道生一 一生二 二生三 三生万物

(Das heißt in etwa): Dao gebiert das Eine, das Eine gebiert die Zwei, die Zwei gebiert die Drei, und die Drei gebiert die zehntausend Dinge.«

Hatte sich in Can Xues Erinnerung ein Vers von Dante womöglich mit einem von Laozi gekreuzt? Nein, das konnte nicht sein. Einige Wochen später meldete sich jener Dante-Übersetzer (Dr. Bodo Zöller, Geschäftsführer der Deutschen Dante-Gesellschaft), den Evas Anfrage offenbar weiter beschäftigt hatte, nochmals über das Buschtelefon zu Wort. Er hatte die exakte Stelle gefunden. Sie steht im Inferno, Canto 28, 124. Dante beschreibt hier den französischen Trobador Bertran de Born, der seinen Kopf in der Hand hält:

Di sé facea a sé stesso lucerna,
ed eran due in uno e uno in due;
com' esser può, quei sa che s'i governa.

 In der Übersetzung von Kurt Flasch1 heißt die zitierte Stelle:

Er machte aus sich für sich selbst eine Laterne;
sie waren zwei in einem und er war einer in zweien.
Wie das sein kann, weiß der, der es so bestimmt hat. 

Die philosophische Zeile verwandelt sich in eine blutige Szene aus einem überbordenden literarischen Kosmos: Der Kopf des Sängers, der schon abgetrennt ist, spricht noch. Rumpf und Kopf, sie sind noch eins, aber doch schon getrennt. 
Es ist keine ätherische Vision einer neuen Harmonie, die uns im Werk Can Xues begegnet. Das Inferno Dantes koppelt sich an Fabriken, an Körper und ihre Wunden, an Heimatdörfer und die tiefsten Sehnsüchte unserer Zeit.

 

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1 Dante Commedia In deutscher Prosa von Kurt Flasch, S. Fischer, 2012 (Seite 118)

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