Das Mädchen und der Tod
Am Sonntag, den 1. Oktober, fährt eine junge Iranerin kurdischer Herkunft mit der U-Bahn zum Gymnasium. Sie trägt keinen Schleier. Eine Beamtin der berüchtigten Sittenpolizei hält sie an: »Warum trägst du keinen Schleier?«
Die sechzehnjährige Iranerin liegt seither im Koma, zwischen Leben und Tod.
Sie sei, so die offizielle Version, infolge eines plötzlichen Kreislaufzusammenbruchs gestürzt und habe sich dabei den Kopf an einem Metallpfeiler gestoßen.
Nach einer anderen Version, die von Augenzeugen stammt, ist die junge Frau wegen ihrer Antwort auf die Frage der Beamtin der Sittenpolizei brutal geschlagen worden.
Über den Vorfall ist in den französischen Medien ausführlich berichtet worden. Aber nur selten wurde die Antwort der jungen Iranerin gegenüber der Polizei wiedergegeben: »Verlange ich von dir, deinen Schleier abzunehmen? Warum also verlangst du von mir, einen zu tragen?« (Siehe Mediapart: »En Iran, une lycéenne entre la vie et la mort pour avoir refusé de porter le voile«, 6. Oktober 2023).
In der Tat die einzig angemessene Antwort, die Entgegnung einer freien Frau, die jegliche Tyrannei, ganz gleich welcher Couleur, ablehnt: „Verlange ich von dir, deinen Schleier abzunehmen? Warum also verlangst du von mir, einen zu tragen?“
Seither liegt das sechzehnjährige Mädchen im Koma. Aber in gewisser Weise ist sie um vieles lebendiger als der Tod, der heute den Iran regiert, und auch um vieles lebendiger als die Vertreter einer französischen Laizität, die aus denselben Quellen schöpft wie die iranische Sittenpolizei.
Die Kriegslogik der Hamas
Am Samstag, den 7. Oktober, im Morgengrauen, beginnt die Hamas den größten bewaffneten Angriff auf das israelische Staatsgebiet seit Jom Kippur 1973. Und schon ertönen die immergleichen Stellungnahmen. Die einen verurteilen den Angriff der Hamas und erkennen Israel das Recht zu, sich zu verteidigen, die anderen verurteilen die israelische Kolonisation und erkennen den Palästinensern das Recht zu, sich zu verteidigen.
Besser also, den Ton abstellen und die Augen öffnen.
Seit Monaten erhebt sich die Zivilgesellschaft in Israel gegen die rechteste Regierung in der Geschichte des Landes. Anfangs richtete sich ihr Protest gegen die von dieser Regierung angestrebte Justizreform, doch seit mehreren Wochen war eine Ausweitung zu beobachten und mehr und mehr wurden auch die mit Palästina verbundenen Fragen einbezogen. Hochrangige Soldaten und Tausende Reservisten schlossen sich der Bewegung an, mit Worten, die einige Monate zuvor kaum vorstellbar gewesen wären. Eine mögliche Revolution bahnte sich an.
Doch weder der Iran der Ayatollahs noch die Hamas, die Hisbollah oder das Syrien Assads wollen eine Revolution, zumindest nicht das, was wir darunter verstehen. Sie wollen, dass der Konflikt zwischen der arabisch-islamischen Welt und Israel alle Kräfte und alle Köpfe in dieser Region der Welt erfasst, damit es zu keiner Revolution, so wie wir sie verstehen, kommen kann, damit es zu ihrer Gegenrevolution kommt.
Das ist der Sinn des Angriffs der Hamas im Morgengrauen des Simchat Tora-Festes (Freude der Tora), das an diesem 7. Oktober 2023 auf einen Schabbat fiel.
Denn die Angreifer wählen stets ein äußerst symbolisches Datum, ganz gleich ob es wie am Jom Kippur 1973 Nationalisten oder, fünfzig Jahre und einen Tag später, am Tag des Simchat-Tora-Festes 2023 Islamisten ein und derselben Gegenrevolution sind.
Nichts ist dem Zufall überlassen. Alles ist bezeichnend. Die »Al-Aqsa-Sintflut« geht auf den jüdischen Staat nieder am Tag des Simchat-Tora-Festes. Das will heißen, dass es sich um einen Krieg des Islam gegen die jüdische Präsenz in Palästina handelt, wenn nicht um einen Krieg gegen das Judentum als solches.
Netanyahu wird also mit dem Finger auf die Hamas zeigen und der Protestbewegung sagen: »Das ist euer Feind, nicht ich.«
Und er wird recht haben.
Denn nicht gegen die Politik der rechtesten Regierung in der Geschichte Israels richtet sich der Angriff der Hamas, sondern gegen die israelische Zivilgesellschaft, die sich seit Januar 2023 auf ganz und gar außerordentliche Art und Weise anschickte, dieser Regierung jegliche Legitimität abzuerkennen.
Einige von uns haben es geahnt: ein Angriff der Hamas und sofort wäre es um eine möglichen Revolution geschehen …
Worum es bei diesem Angriff der Hamas geht, kurz-, mittel- und langfristig, ist in der Tat das Mundtot-Machen jeglichen Protests, ihn buchstäblich aus dem Denken zu verbannen, im Innern Israels wie im Innern Palästinas, damit einzig die Waffen das Wort ergreifen, zu einem Zeitpunkt, da in Israel das Wort sich zu erheben begann, um die Waffen womöglich zum Schweigen zu bringen.
Die Baas-Partei in Syrien, die Hisbollah im Libanon, die Hamas in Palästina, die Ayatollahs im Iran usw. streben nach ein und derselben Welt, sie betreiben ein und dieselbe Politik.
Sich vorzustellen, der Widerstand gegen die kapitalistische Verwüstung der Welt mache es heute, im Namen des »grundsätzlichen Widerspruchs«, erforderlich, sich vorübergehend der Sache dieser tyrannischen Obskurantismen anzuschließen, läuft darauf hinaus, sich die Revolution in fundamental nihilistischen Begriffen vorzustellen oder für sich ein Mittel gefunden zu haben, den Namen Israel zu hassen – oder aber auf beides zugleich, untrennbar miteinander verwoben.
Aus dem Französischen von Tim Trzaskalik