06.04.2017

Radonitzer: Goldstein lesen 5

Radonitzer: Goldstein lesen 5

Listen

Seitdem der französische Philosoph und Sinologe François Jullien, aber auch der italienische Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco in der Ästhetik die Aufmerksamkeit für Listen geschärft haben, kann man in Texten eine Vielzahl solcher Listen entdecken. Die Liste als nicht endende Darstellung des Unendlichen aufgefaßt, ist eine Möglichkeit, das unerzählbar Unzählbare erzählbar zu machen.

Das mäandernde Struktur- und Erzählprinzip, das stellenweise dem chaotisch anmutenden Schreiben Goldsteins gleichkommt, das eruptive Herausschleudern von Assoziationen, wird an vielen Stellen von Listen, man könnte auch von beschreibenden Aufzählungen sprechen, durchsetzt, mit denen der Autor Dinge, Sachverhalte, Zustände, Personen, Orte, deren Wesen er mit Schreiben gar nicht oder nur sehr ungenau zu bestimmen vermag, durch das Reihen von Eigenschaften erzählbar macht. So wechseln erzählende häufig mit aufzählenden Passagen, so eine Ökonomie des Erzählens erzeugend, einen Rhythmus konstruierend, zu raffen oder zu beschleunigen, um dann wieder in ruhige, betrachtende Passagen überzugehen.

Im 8. Kapitel seines Romans gibt Goldstein vielfältige Beispiele solchen Erzählens mit Hilfe von Listen: Der Älteste der Daglinen erscheint bei den Mützenmachern. Der Raum, den er betritt, wird über eine Liste der Bilder erzählt, die ihn schmücken und geht in eine fiktive, aus der Erinnerung des Daglinen gespeiste Liste über, die seiner Mission, durch Schönheit zu heilen (er träumt von einer Bruderschaft der von Schönheit Besessenen), entspricht. Aufgezählt werden die Dummköpfe und Opportunisten mit ihren Interessen, die diesem Bemühen entgegenstehen. Aufgefordert, das Brot zu schneiden, an der rituellen Mahlzeit der Mützenmacher teilzunehmen, setzt sich der Dagline an den Tisch. »Draußen wurde der Regen stärker« heißt es im Text und jetzt wird aufgezählt, wie sich Leute draußen bewegen.

Der Dagline erwähnt die Möwen und sogleich ist er beim Hafen, den Gerüchen, dem Ort von Abschied und Ankommen, den Leuten, Kapitänen, Matrosen, Barfrauen, Schaulustigen, einem Journalisten, der für den Poseidon-Kurier arbeitet, das zweite Mordopfer des Daglinen. Zuvor berichtet er von seinem ersten Opfer, einem Großkaufmann aus Saloniki. Und wieder Listen: die Möblierung der Villa, die Speisefolge beim Imbiß – Brioches, Roquefort, Basturma auf türkische Art, Dijoner senf, Biskuits, Courvoisier, Weintrauben, Pfirsiche (Speisekarten tauchen mehrmals im Roman auf), die Spiegel und Bilder an den Wänden, in einer untergeordneten Liste (es gibt eine Hierarchie der Listen) die Benennung vieler Details auf einer Reproduktion der Arnolfini-Hochzeit Jan van Eycks, auf die der Großkaufmann aufmerksam macht. In all das ist ein Radioapparat geflochten, der zunächst auf schwindender Wellenlänge zähe »Intonationen des Demagogen aus den Pyrenäen, einem Zwitter aus Stier und Torero« ausstrahlt, bevor er sich auf Wiener Musik einstellt, Geigen, Ballkleider, Monokel (ach, Goldsteins Sehnsucht nach der Habsburger Monarchie); und während die geigen schwinden, der Minotaurus auf den Rundfunkwellen wieder heranschwimmt, überlagern ihn im Telefunkenapparat Nachrichten von der Normerfüllung sowjetischer Melkerträge. In diesem Moment sticht der Dagline dem Kaufmann das Stilett unter das Schulterblatt und erinnert sich zugleich an die Ermordung eines spanischen Journalisten, dem Garcia Lorca eine Totenklage gewidmet hat, nimmt noch einmal die Bilder an der Wand wahr. »Das Gelb der Kapuzinerkresse glich dem Sand der Stierkampfarena.«

In der Junggesellenbude des Poseidon-Reporters ist die Kartothek untergebracht. An dieser Stelle Goldstein: »Um zu erklären, worum es hier eigentlich geht, muß ich bei ein paar Aufzählungen Zuflucht nehmen. In den Katalogkästen, Mappen und Ordnern, die beide Zimmer, den Flur, das verrußte Viereck der Küche und einen Teil des Bades einnahmen, wo sie eine Polyäthylenplane abdeckte, wurden allerlei, über viele Jahre gesammelte, sich auf den Hafen beziehende Daten und Zeugnisse, Flottenzahlen von hier beheimateten Schiffen aufbewahrt: Wasserverdrängung, Knotenzahl, Tiefgang des Kiels – bis zu Lebensbeschreibungen von Kapitänen, Leutnants zur See, Lotsen, die alles, was Seefahrern Achtung abnötigt, verkörperten, aber auch von Matrosen und Schiffsjungen, Trunkenbolden und Huren, namentlich ausgewiesen mit Einzelheiten ihrer Biografien. Hier war der ganze Hafen, die ganze Geschichte. Wenn Sie also den Wunsch hätten nachzuforschen, an welchem Tag eines ungenannten Jahres die weiß-blaue, mit Oliven beladene Jane Birkin in Cape Town auslief, von welcher Schmuggelware ihre Sirenen zu den Himmeln heulten, wer wegen einer Boa Konstriktor im Laderaum abzumustern gezwungen war, in welcher Kneipe in Saloniki sich der Kapitän mit dem Residenten der südafrikanischen Aufklärung getroffen hat, und der wiederum mit dem Antwerpener Antiquar, einem großen Meister im Verkauf japanischer Fälschungen, Unmengen von Ukiyo-e-Bildern, und sie alle miteinander, die ganze inzwischen stumme Gesellschaft mit dem Sowjetkonsul in Beirut, falls Sie Lust hätten, das Schicksal der Mannschaft zu verfolgen, die auf jener Reise eine Menge neuer Erfahrungen gemacht hatte, in deren Folge der Rumäne, der das Schiff geheuert hatte, eine andere, weniger irgendwelchen Halluzinationen unterworfene Horde engagierte, - über all das könnten Sie in der öffentlich zugänglichen Kartothek nachlesen. Niemand benötigte sie. Niemand, auch nicht die träge gewordenen Spezialdienste, äußerte auch nur einen Hauch Neugier. Der Archivarius jedoch, mutterseelenallein mit seinen körnchenweise angeschwemmten Schätzen, war unerschütterlich wie ein viktorianischer Leichnam, der so lange auf dem Tisch unterm Laken liegt, bis sich Familie und Freunde von ihm verabschieden.« Ein deutlicher Blick in die Schreibwerkstatt Goldsteins und über das Sammeln, Ordnen, Rubrizieren.

Es gibt geheimnisvolle Listen wie die mit den sieben von Yaschar-Muallim aufgestellten Figürchen zum Gedächtnistraining seines Schülers Mirza-Aga, die mit den Schachbrettern auf dem Totenhemd von Abowjan, dann die ganz offenkundigen mit der Aufzählung der Prostituierten auf dem Parapet, die mit dem Programm Djalils für den Molla Nasreddin, die mit den Opfern unter den Bewohnern eines amerikanischen Luftangriffs auf die Basilika San Lorenzo, den Friedhof und die Nachbarviertel in Rom.

In fast allen achtzehn Kapiteln kann man, sofern man dieser Theorie folgt, Listen finden.

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Neben den Listen, die man in Denk an Famagusta entdecken kann, finden sich in Pamjati pafosa (2009 posthum aus dem Nachlaß) Essays und Kritiken, die Goldstein für Zeitschriften verfaßte, in denen die unterschiedlichsten Listen zu entdecken wären. Zur Jahrtausendwende wurde er, als schon namhafter Rezensent, gebeten, die besten russischen und die besten Romane der Weltliteratur zusammenzustellen. In dem im März 1999 geschriebenen Essay Das Beste vom besten führt er 19 russische Autoren an, darunter den georgischen, russisch schreibenden Künstler Ilja Zdanewitsch(Iljazd) mit dem Roman Verzückung, auch Wsewolod Iwanows bissiger Roman U gehört zu dieser Auslese (beide Romane bereitet Matthes & Seitz Berlin zur Herausgabe vor). Die russische Liste ist für ihn zum Zeitpunkt des Niederschreibens, wie er sagt, perfekt, die Liste der Weltliteratur bezeichnet er als eine sehr subjektive persönliche Auswahl ohne Prätention auf Vollständigkeit. Bei dieser Liste, die 31 Autoren umfaßt, fällt die große Zahl derer aus der österreichisch-ungarischen Monarchie auf: es sind Hermann Broch, Elias Canetti, Jaroslav Hašek, Franz Kafka, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Joseph Roth, Italo Svevo.

Goldstein fokussiert sein Interesse vor dem Hintergrund der erlebten Implosion der Sowjetunion schon früh auf die Geschichte von Imperien. Drei dieser »größeren Mastodonten«, wie er in seinem ersten Buch Rasstavanie s Narcissom (Moskau 1997) schreibt, brachen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auseinander: Österreich-Ungarn, das Deutsche Kaiserreich, das Osmanische Reich. So liegt auf der Hand, daß er sich Autoren zuwendet, deren Schreiben diesen Untergang thematisiert, macht auf jene aufmerksam, die im Zerfall des eigenen Imperiums Analogien zu früheren sehen. Schreibt er über Brochs Tod des Vergil, stellt er die Brücke zum Untergang des römischen Imperiums her, dessen Niedergang Goldstein in Denk an Famagusta im großartigen 15. Kapitel über die Kampfspiele im Kolosseum mit einer der schillerndsten Figuren, dem Gladiator Mger-Claudius Mgojan illuminiert, der für sich in diesem Kapitel die Literatur und das Lesen entdeckt. Eine weitgefächerte Liste führt seine Lektüreinteressen an.

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Der Untergang des Habsburger Imperiums beschäftigt Goldstein nachhaltig, weil er in diesem Imperium auch Züge entdeckt, die er, wäre er dort großgeworden, geliebt hätte. Deutlich wird das, wenn er Joseph Roth huldigt (Jaffa, Behausung und Fotografie in Aspekte einer geistigen Ehe), eine kleine Liste über die Vorzüge der Donaumonarchie anführt und schreibt: »Als Monarchist ohne Monarchie neigte er sich über den österreichisch-ungarischen Herrscher, in dessen Überresten untröstlich nach Vorzeichen für die Auferstehung seiner sterblichen Hülle suchend, unter deren Schatten, als er lebendiger und machtvoller Leib war, die Völker in Ruhe lebten… Da erfasste Joseph Roth das Wichtigste: Es liegt nicht in seiner Macht, den Monarchen zurückzuholen, aber dafür kann er die Trauer feiern, … das Wort vom gescheiterten imperialen Schicksal, dem zerschlagenen Donauglück, wo das Leben aus dem Samen der Hoffnung wuchs… Joseph Roth ist mir sehr nah, aber ich riskierte nicht, seine Fotografie über meinem Bett aufzuhängen.«

Natürlich gehört Radetzkymarsch zur Liste der 31. Dort »zeigte Joseph Roth das Schwinden in der Welt der ›Menschlichkeit‹, die sich auf irgendeine Art in dem altersschwachen, bürokratisierten, aber auch immer noch patriarchalen Imperium erhalten hatte. Nach dessen Tod konnte man darüber nicht mehr lachen, es entstand Mitleid, Nostalgie, dann auch verständnis seiner riesigen Aufgaben und unikalen Erfahrungen. Die Habsburger Monarchie der letzten Nachkriegsjahre blieb wie früher immer noch die Verkörperung des universalen Prinzips der Gemeinschaft und der Kooperation der Völker.« (Der offene Kreis, in Rasstavanie s Narcissom).

Deutlicher kann die Ambivalenz der Gefühle, die der Zerfall des Imperiums auslöste, kaum benannt werden.

Wenn Eco praktische und poetische Listen unterscheidet, aber offenläßt, von welchem Standpunkt aus man eine Liste betrachtet, eine praktische Liste als abgeschlossen gilt, eine poetische aber nach hinten verlängerbar, so changieren Goldsteins Listen unentwegt.

In den fünf veröffentlichten Büchern ziehen nicht allein eine Phalanx von Namen vorbei, auch Orte, Dinge, Eigenschaften. In den Listen bändigt Goldstein sein ausuferndes Erzählen, verknappt, versucht das Mäandern halbwegs zu begradigen, sich zu disziplinieren. Dieser Gefahr ist er sich bewußt, schreibt er doch schon kurz nach der Hälfte seines Romans Denk an Famagusta »… keine Namen, der Roman nennt schon zu viele Namen«.

Goldstein öffnet eine Hintertür – er nennt keine Namen mehr, bezieht sich aber klandestin auf Autoren, Bücher, Filme usw. Hinter die Geheimnisse Goldsteinscher literarischer Weltläufigkeit zu kommen, seinen Kosmos durchsichtiger zu machen, seinen sprunghaften Kombinationen zu folgen, ist reizvoll, erfordert Neugier, ist endloses Suchen und Finden.

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Ich füge den Goldsteinschen Listen eine, als »work in progress« zu verstehende Liste nur der Schriftsteller bei, die in Famagusta genannt oder ungenannt durch die Seiten irrlichtern; so eine versteckte Liste offenbarend, Irrtümer eingeschlossen:

John Bunyan; Chatschatur Abowjan; Mirza-Fatali Achundow; Pierre Drieu la Rochelle; Louis-Ferdinand Céline; Sayyid Imad ad-Din Nasimi; Franz Rosenzweig; Eugen Rosenstock-Huessyl; Herman Bang; Casanova; Henry James; E. T. A. Hoffmann; Rochefaucould; T. S. Eliot; Harriet Beecher-Stowel; Mendele Moicher Sforim; Jean Genet; Yusuf Khass Hajib Balasaǧuni; August Strindberg; Pawel Florenski; Charles Fourier; Scholem Alejchem; Denis Fonwisin; Alexander Grin; Kosma Prutkow; Ilja Ilf/Jewgenij Petrow; Garcia Lorca; Ignacio Sánchez Mejías; Wladimir Majakowski; James Joyce; Lew Tolstoi; Mamed Said Ordubady; Joseph Conrad; Homer; Ivo Andrić; Charles Perrault; Wilhelm Hauff; Henry David Thoreau; Igor Sewerjanin; Rudyard Kipling; Wjatscheslaw Iwanow; José Saramago; Wole Soyinka; Anton Tschechow; Boris Pilnjak; Friedrich Schiller; Bekir Vaap Oǧlu; Alexander Radischtschew; Jurij Degen; Grigol Robakidse; Tizian Tabidse; Paolo Iaschwili; Galaktion Tabidse; Charles Baudelaire; Fernand Crommelynck; Jean Racine; Swiad Gamsachurdia; Konstantin Gamsachurdia; Johann Wolfgang Goethe; Zoilos; Djalil Mamedguluzadé; Heinrich von Kleist; John Keats; Antonio Gramsci; Vladimir Nabokov; Sergej Jessenin; Nikolaj Kljujew; Ilja Selwinskij; Gómez de la Serna; Walentin Stenitsch; José Augusto Trinidad Martinez Ruiz; Thomas Mann; Mirza Alekper; Leonid Dobytschin; Fjodor Sologub; Michail Bulgakow; Feriduddin Attar; Luis de Góngora; Henri Barbusse; Jan Kochanowski; Jeremej Parnow; Awgust Schperk; Theodor Mommsen; Nikolaj Jewfremow; Alexander Puschkin; Nikolaj Gumiljow; Jaroslav Hašek; Lukian; Maximilian Woloschin; Jacint Verdaguer i Santaló; Welemir Chlebnikow; Nikolaj Marr; Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī; Joris-Karl Huysmans; O. Henry; Zděnek Burian; Francis Ponge.

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