12.06.2024

Luft pflanzen

Situiert im Globalen schreiben

Ich bin im Grunde nicht der luftige Typ. Ich empfinde mein Schreiben nicht als Seiltanz oder Akrobatik. Ich mag das Irdische, grabe und pflanze gerne. Früher ging ich ganz gerne klettern, inzwischen bevorzuge ich es, schweren Schritts zu wandern. Ich denke, das merkt man meinen Texten auch an. Die Dissertation über digitale Kulturen war eine Turnübung, ein Eintrainieren von komplizierten Denkfiguren, Jonglage mit Theorien. Das war damals notwendig, um Gelenkigkeit und Mut zu gewinnen; und ich bewundere alle, die diese hochkonzentrierte Form des Schreibens für die ganze Dauer ihres Schreiblebens durchhalten können. Bei mir hat aber wohl das Bäuerliche meiner Herkunft durchgeschlagen. Mein Schreiben ist langsamer und abwartender geworden. Das Ausloten von Alltagssprache für die Artikulation komplexer oder opaker Sachverhalte – wie etwa für das situierte Schreiben im Globalen – ist mir wichtiger als der Drahtseilakt des Denkens. Eine Gegenkraft zu diesem bodennahen Vorgehen ist eine bleibende Faszination für das Windige, für Luft in Bewegung, vom Hauch bis zum Sturm. Ohne viel Nachgrübeln hieß dann mein Buch über Monika und Hans Ertl, den Nationalsozialisten und seine Tochter, die in die bolivianische Guerilla ging: Surazo, der Name eines kalten Winds, der mehrmals im Jahr in die bolivianischen Tropen einfällt und einen schockierenden Temperatureinbruch bewirkt. Das Motiv des Winds steht am Anfang und am Ende des Buchs. Ich lese eine der Eingangssequenzen, die sich auf Joris Ivens‘ Film Eine Geschichte über den Wind (1988 veröffentlich) bezieht.

 

Eine Geschichte über den Wind

Une histoire de vent (Eine Geschichte über den Wind), der letzte Film von Joris Ivens, wurde 1988 veröffentlich. Im Jahr darauf starb der Filmemacher, der noch im 19. Jahrhundert geboren worden war und der in den 1920er-Jahren zwei ganze Jahre damit verbracht hatte, einen zwölfminütigen Film über den Regen zu machen. Joris Ivens war Teil des sozialistischen Projekts des 20. Jahrhunderts: Von Borinage (1934), dem Film über die schwierigen Lebensverhältnisse und Proteste in einer belgischen Bergarbeitersiedlung, über die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg bis hin zum gemeinsamen Filmprojekt mit Chris Marker, Agnès Varda und anderen Avantgardisten (Loin du Vietnam, Fern von Vietnam, 1967) sind Ivens’ politische Überzeugungen eingebettet in seine Filmarbeit.

Eine Geschichte über den Wind widmet sich einer Suche, die fast ein Jahrhundert lang dauert. Der Film erzählt über den Wunsch nach Bildern für das Ungreifbare, das Veränderliche, das Prinzip der Geschichte, die Möglichkeit des sozialistischen Wandels: Bilder für den Wind. Schon die Eingangsbilder präsentieren das side-by-side-Prinzip, das Siegfried Kracauer als Erkenntnishaltung von Film und Geschichtsschreibung herausgearbeitet hat: ein Seite-an-Seite von Persönlichem und Kollektivem, Subjektivem und Objektivem, Bewusstem und Unbewusstem, Rationalem und Irrationalem, Fakt und Fiktion, dem Kleinen und dem Großen. Wir sehen, nein wir hören zuerst flappende Windradflügel. Die Flügel schneiden in das Bild, sie machen Lärm, den Lärm historischer Großereignisse. Dann: Eine Wäscheleine, auf der Frischgewaschenes flattert, Alltag, unauffälliges Wehen. Dann: Ein Junge in einem selbstgebauten Spielzeugflugzeug. Es wird noch abheben, obwohl das Flugzeug nicht fliegen kann. Im restlichen Film durchstreift Joris Ivens, der ein sehr alter Mann geworden ist die politischen Landschaften des 20. Jahrhunderts. Der Film wird zu einer Revue. Die Form wird akzentuiert durch den Nachbau des Schwarz-Weiß-Szenarios von Méliès’ Animationsfilms Le voyage dans la lune (Die Reise zum Mond, 1902), allerdings im Stil der chinesischen Oper. Am Schluss steht ein leerer Sessel in der Wüste. Ivens ist weggegangen, der Wind weht weiter.

Eine Geschichte über den Wind ist die Geschichte des grenzüberschreitenden Charakters der Idee des Sozialismus, der fantastischen Idee einer Welt mit mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, einer Idee, die freilich in ihrem Bestreben nach einer Welt ohne Zurichtung ihrerseits gewalttätig wurde. Der Toten eingedenk dieser grenzüberschreitenden und gestaltwandlerischen Idee die Treue zu halten, ist der Einsatz von Joris Ivens. Ein Jahr nach seinem Tod, 1990, wurde ein Lied über den Wind zur Hymne des Falls der Berliner Mauer. Wind of Change der Scorpions war auf allen Radiokanälen zu hören. Es war eine Wende zu neuen Freiheiten für die Menschen, die im Ostblock lebten. Dieser Wind des Wandels bescherte aber auch den zwischenzeitlichen Triumph jener ökonomischen und politischen Ordnung, gegen die Menschen wie Monika Ertl (eine der Protagonistinnen des Buchs) gekämpft haben. Surazo, ein kalter Winter aus dem Süden, sollte der Name von Hans Ertls (ihres Vaters) letztem, dem verlorenen Film sein. Und Südwind heißt das entwicklungspolitische Magazin, das meine Eltern als ehemalige »Entwicklungshelfer« bezogen haben, um mit den österreichischen Ehemaligen in Kontakt zu bleiben. Ich muss eine weitere Geschichte über den Wind schreiben.

Das Motiv des Windes, aber mehr noch künstlerische Bearbeitungen des Motivs mit ihrem jeweiligen historischen Zeitstempel, öffneten mir Möglichkeiten des Schreibens über – mit der Gegenwart kokmmunizierender – Vergangenheit. Der Zeitstempel von künstlerischen Arbeiten interessiert mich nicht um sie einzuordnen und damit wegzusortieren oder aus dem Spiel zu nehmen. Ein Beispiel: Joris Ivens sagte über seinen Film damals: „Ich benutze den Wind, um zu erzählen, dass das erstarrte politische System des Marxismus nicht mehr zeitgemäß ist und durch etwas Neues ersetzt werden muss. Der Wind sollte alle erstarrten Dinge umblasen“.[1] Was mich an dieser Aussage und an dem Film interessiert ist eben nicht, was er über den Zustand des Marxismus in den 80er Jahren zu sagen hatte, sondern der Veränderungsimpuls, der aus Ivens Beobachtungen in die Gegenwart drückt und der für das Hier- und Heute Fragen generiert. Unmittelbar stellt sich dann die Frage: Ist im Hier- und Heute wirklich ideologische Erstarrung ein Problem? Ist es nicht vielmehr so, dass die liberal-kapitalistische Hegemonie der letzten ungefähr 30 Jahre alle Gewissheiten ins Rutschen gebracht hat, sodass der entscheidende Wandel vielleicht darin bestünde, die rasenden Veränderungen zu stoppen? Den Abbau von Sozialstaat zu stoppen, den Tagebau im so genannten Globalen Süden zu stoppen, den Ressourcenextraktivismus zu stoppen, maschinengenerierten Informationsmüll zu stoppen – Darum geht es heute, nicht darum, verkrustete Nachkriegsverhältnisse aufzubrechen. Der Veränderungsimpuls, den ich aus Ivens Film aufnehme, besteht also darin, über Veränderung selbst nachzudenken.

Der Scorpions-Song Wind of Change, von dem schon die Rede war, bezieht sich auf ein angeblich chinesisches Sprichwort: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.“ Joris Ivens Film, der großteils in China spielt, setzt mit Windmühlen ein, die Kamera fährt dann mit dem Wind über die chinesische Mauer. Heute werden Windmühlen in großem Maßstab gebaut, denn Windkraftwerke versprechen grüne Energie. Es würde dem grünen Kapitalismus nicht einfallen, Mauern gegen den Wind zu bauen, denn Windenergie ist wertvoll. Es ist sinnfällig, dass diejenigen, die nicht an einen grünen Umbau des Kapitalismus glauben, Strategien der Blockade verwenden. Sie bauen keine Mauern, sondern spannen Zelte und Baumhäuser zwischen Bäume. Es entstehen halbdurchlässige Architekturen, weder Mauer noch Windmühle. Hier kann man etwas in der Luft pflanzen.

Weil Winde abflauen, auffrischen, Stürme werden, die Richtung wechseln können, Nässe oder Trockenheit bringen, Temperaturwechsel einleiten und sich dabei räumlich ausbreiten, konnte ich im Zeichen des kalten Windes Surazo Geschichtsverläufe anders als eine lineare Folge von Ereignissen denken und darstellen: Historisches Geschehen beinhaltet selbstverständlich Kausalitäten und Tendenzen, aber diese sind in hochdynamische und im Kern kontingente, also nicht notwendige, Prozesse eingebunden. Wie Winde kommen verschiedene historische Konstellationen nicht wieder, sondern wieder auf. In Surazo ging es um das Erbe der internationalen linken Militanz und ihren Gestaltwandel zwischen Südamerika und Europa. Unsere Gegenwart wird auf erschreckende Art und Weise von Gewalt heimgesucht, die in Vergangenheiten wurzelt: Im Kalten Krieg im Fall des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, in Holocaust und der Endphase des Imperialismus im Fall Palästina und Israel. Das wäre eine zweite Form des Pflanzens von Luft: Geschichte weniger nach einem psychologischen Modell (etwa der Wiederkehr des Verdrängten) zu schreiben, als nach dem Muster einer animierten Windkarte. Zur Medien- und Wissensgeschichte von Windkarten ließe sich viel erzählen, für die zeitgenössische Konstellation scheint mir der Umstand am relevantesten, dass es immer schwieriger wird, den Wind überhaupt zu kartieren. Als Metapher stand der Wind immer schon für Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, dennoch war es mit der entsprechenden Erfahrung und den richtigen Beobachtungswerkzeugen möglich, Regelmäßigkeiten und Erwartbarkeiten aufzuzeichnen. So entstand zum Einen eine ganze Menge vernakuläres Wissen über den Wind, das sich beispielsweise in Bauernweisheiten niederschlug.

“Sturm und Wind in der Walpurgisnacht hat Scheune und Keller vollgemacht.“

Wegen ihrer Wichtigkeit für die Seefahrt entstanden Windkarten des Meeres, die Wind, Strömung und Dünung verzeichneten; in Europa genauso wie bei den großen Seefahrenden Zivilisationen in Polynesien. Die Darstellungstechniken waren unterschiedlich, ebenso die Verwendungsweisen, so wurden die polynesischen Karten in Tanz und Gesang eingeübt. Der Zweck war aber der Gleiche: Sich möglichst umfassend auf die Gefahren der See vorzubereiten und die Kräfte des Windes optimal zu nutzen. Ausgehend von Europa entwickelte sich aus der praktischen Kartierung und Messung Wissenschaften: die Meterologie und die Klimaforschung. Die zeitgenössische Situation ist aber nun dadurch bestimmt, dass gerade die, wenn auch nur temporäre, Beherrschbarkeit der Winde und die ungefähre Vorhersehbarkeit von Windereignissen verloren gegangen ist. Das Wetter spielt verrückt, Stürme werden stärker und unvorhersehbarer. Das sind die theatral sichtbaren Auswirkungen des thermischen Kuddelmuddels der Klimakrise. Weniger theatral, aber nicht weniger dramatisch ist fehlender Wind: Wenn das Wetter zu lange gleichbleibt, verdorren Ernten oder die Böden saugen sich dermaßen mit Wasser voll, dass sie zu rutschen beginnen. Die Winde, die den Wetterwandel bringen, haben sich selbst gewandelt und sind unberechenbarer denn je geworden. Standen Windkarten für das riskante Unternehmen der Navigation der Meere, stehen die neuen Windverhältnisse für die neuen Schwierigkeiten bei der Navigation von Zeiten. Gerade das, was vor uns liegt, scheint entweder überdeterminiert – das Ende der Welt kommt sicher – oder ist beunruhigend ungreifbar. Das betrifft vor allem die relativ nahe Zukunft, die sich zunehmend zu entziehen scheint. Die einzige Sicherheit, die wir noch zu haben scheinen, ist, dass das Morgen anders sein wird als das Heute. Eine dritte Version des Luft-pflanzens wäre es also, in den Zeit-Raum zwischen bedrängender Gegenwart und sicherem Ende etwas wachsen zu lassen, was relevant ist.

Die Frage der Relevanz bringt mich zu den komplizierten Fragen mit Blick auf das Schreiben, was kommt: Die Grundstellung eines erdumspannenden Zusammenlebens, in dem Vulnerabilitäten und Gewalterfahrungen so ungleich verteilt sind, dass das Schreiben selbst, der Rückzug, den die Tätigkeit bedeutet, die Ruhe, die es braucht, mir bisweilen als skandalöser Luxus erscheint. Wie lässt sich eine situierte Praxis des Schreibens kultivieren, die aus dem Strudel der ungleichen Gefährdung heraus tragfähige Beschreibungen liefert? Und wie lassen sich Tragfähigkeit und Relevanz überhaupt noch fassen? Ich denke, dass es in einem solchen, un-unschuldigen, Schreiben darum geht, sich als Schreibende grenzwertig zu machen, sich dem, was eigentlich nicht aushaltbar ist, auszusetzen; aber auch darum, sich systematisch reinreden zu lassen. Man könnte auch sagen, dass es darum geht, das Schreiben porös zu machen und Eindringlinge willkommen zu heißen. Eine Methode habe ich in dem kleinen Büchlein „Gegenentkommen“ ausprobiert, die Eindringlinge kommen hier aus der Vergangenheit, aber auch aus Whatsapp.

Ich lese einen der Kalendereinträge des Buches vor:

 

  1. November 2022 – Tod und Teufel

Linz, Österreich

Meereshöhe: 266 Meter, Luftlinie zum Mittelmeer: 325 Kilometer, durchschnittliche Tageshöchsttemperatur (November): 8 °C

In meiner Erinnerung ist Allerheiligen ein Tag, an dem ganz und gar nichts Aufregendes passiert. Meistens war es ein grauer, nebelig-nasser Herbsttag, an dem man schulfrei hatte. Man ging auf den Friedhof und zündete eine Kerze am Grab von Verwandten an. Schon als Kind habe ich mich gefragt, warum das eigentlich zu Allerheiligen und nicht dem darauffolgenden Allerseelen gemacht wird, schließlich besuchten wir ja die ganz normalen Seelen und nicht die edlen Heiligen. Inzwischen ist ohnehin etwas durcheinandergeraten, weil am 31. Oktober nun überall Halloween gefeiert wird und Kinder und junge Leute als Tod und Teufel verkleidet durch die Straßen laufen. Dafür war früher der Nikolaustag vorgesehen. Am 5. und 6. Dezember waren die Straßen in Tirol, wo ich aufgewachsen bin, voll mit Perchten und Krampussen, die damals noch mehr Schläge als Süßigkeiten austeilten. Dazu kommt noch der mexikanische Día de los Muertos, diesmal wirklich: Allerseelen – ein Tag, an dem man auf den Friedhöfen mit den nahen Toten isst, trinkt und musiziert. Das ist mir sympathisch, ich habe aber keine Erfahrung damit. Gestern Abend bin ich in Wien gestrandet. Heute Morgen im Zug nach Linz lese ich dann die Zeitungsnachricht, dass die gesamte Linzer Innenstadt gestern Nacht gesperrt war, weil eine große Gruppe Jugendlicher Radau geschlagen hat. Die Jugendlichen hatten sich über TikTok verabredet. Linz sollte Athena werden, war ihre Parole. Sie bezogen sich auf den gleichnamigen Film von Romain Gavras und damit auf Aufstände in den Pariser banlieus. In Linz. Das nun wirklich keine Metropole mit weitläufigen, heruntergekommenen Außenbezirken ist. Aber auch hier gibt es Chancen- und Perspektivlosigkeit, gerade auch bei jungen Leuten.

Dann eine Whatsapp-Nachricht aus Kolumbien: Eine paramilitärische Einheit bedroht die Verantwortlichen des Volkstribunals (Tribunal Popular) von Siloé in Cali, das sich um die Aufklärung der politischen Morde rund um den Generalstreik 2021 kümmert, mit Mord. Es ist ein hässlicher Brief, voller Beschimpfungen und mit einer Morddrohung, die Namen nennt. Außerdem die Drohung, dass alle bezahlen werden, die mit dem Volkstribunal zusammenarbeiten. Die paramilitärische Gruppe, deren Briefkopf das Schreiben trägt, hat bereits öfter gemordet.

Die Nachricht wurde am 30. Oktober überbracht, während des berühmten »Umzugs der Teufel« in Siloé, bei dem Gruppen von Maskierten, hauptsächlich junge Leute, musizierend durch die Straßen ziehen. In Cali dauert der Teufelskarneval ungefähr einen Monat lang und hat eine lange Geschichte, in der sich afrokolumbianische Traditionen mit anderen Bestandteilen mischen. Auch der Día de los Muertos spielt dabei eine Rolle, inzwischen sicher auch Halloween. Wenn ich zu Kolumbien unterrichte, lese ich mit den Studierenden immer das Buch von Michael Taussig über den Teufel als Fetisch und Widerstandsfigur. Der Ethnologe untersucht darin Bergbaugebiete in Bolivien und die Gegend um Cali, das Valle del Cauca. Er zeigt, wie der europäische Teufel von den Versklavten und der Sklaverei Entkommenen als eine Figur angeeignet wurde, die nicht für das absolute Böse steht, sondern für Ungehorsam, Ekstase und all das, was die Missionare verbaten und bekämpften. Der Teufelsumzug in Siloé ist üblicherweise ein fröhliches Fest. Er ist bewusst so organsiert, dass auch Leute aus anderen Stadtvierteln daran teilnehmen können, obwohl die barrios in Kolumbien oft durch sogenannte »unsichtbare Grenzen« getrennt sind, da die Sektoren von unterschiedlichen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden. Im Schutz der Teufelsmaske dürfen diese unsichtbaren Grenzen überschritten werden. Vorgestern hat jemand die offene Atmosphäre und den Schutz der Maske dazu genutzt, um einem Kind die Morddrohung in die Hand zu drücken. Die katholische Kirche hat den Teufel an die Wand gemalt, um Angst und Schrecken vor dem Jenseits zu verbreiten und damit die Gegenwart moralisch zu beherrschen. Die Machtlosen sind in seine Maske geschlüpft, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Und der Paramilitarismus infiltriert jetzt in Teufelsmaske die geteilte Gegenwart mit dem Tod.

Was ich hier versucht habe, ist im besten Fall eine textförmige Analogie zu den Zelten, die zwischen Bäume gespannt werden. Der Anlass des Zusammenziehens von Ereignissen ist ein ganz konkreter; die Sphären des Textes, Österreich und Kolumbien, sind getrennt, aber eher durch Zeltplanen als durch Mauern; man kann nicht nur in ein weit entferntes Zelt hinüberhören, es bleibt einer gar nichts anderes übrig, als mitzuhören, Zeugin zu werden, es auszuhalten, dass man nur hört, aber nicht eingreifen kann, weil das andere Zelt, in dem jemand gefährdet ist, physisch dann doch zu weit weg steht. Ich habe in Gegenentkommen mit dem Problem gerungen, wie ich über etwas, den kolumbianischen bewaffneten Konflikt, schreiben kann, ohne mich vampirisch des Leidens der Betroffenen zu bemächtigen. Denn ich war zwar immer wieder und auch länger vor Ort und konnte auch – in homöopathischen Dosen – etwas beitragen, aber ich blieb dabei ungefährdet. Meine wirtschaftliche Situation und mein Pass erlaubten mir, jederzeit zu gehen, während Freunde und Freundinnen bleiben mussten, sich der Gefahr aussetzen mussten und immer noch müssen. Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, über Kolumbien, über die Angriffe der Paramilitärs auf Bürger*inneninitativen, über den Friedensprozess, über Polizeigewalt zu schreiben; und zwar weil mir die Geschichten ausdrücklich anvertraut worden sind, um sie weiterzuerzählen. Das allein beantwortet freilich die Frage nach dem wie des Erzählens solcherart Verbundenheit in Ungleichheit nicht. Mein Versuch bestand darin Situiertheit – die Angaben zu Ort und Zeit des Schreibens sind übertrieben exakt – in eine Spannung zur schwer erträglichen Gleichzeitigkeit von Gefährdung und Sicherheit zu bringen. Die herüberwehenden Stimmen, sollten als Einsprüche erklingen. Bilder der Ausgleichs oder des Harmonischen (etwa ein Chor von Stimmen) verboten sich. Nur so kann das, was nervt und stört im Text Wurzeln schlagen.

Es sind immer wieder filmische Techniken, die mich bei der Formsuche des situierten Schreibens im Globalen anregen. Surazo habe ich auch praktisch geschnitten und montiert, umgeschnitten und ummontiert. Manchmal ist es aber auch das Sprechen über Film, das mir Auskunft über das Schreiben gibt. So sagte Joris Ivens über einen anderen Windfilm, den er in den 1960er Jahren gedreht hat, über Mistral, folgendes: „Zum Ende des Films hin werde ich meine Bilder mit immer mehr Wolken vollstopfen, (…) alles bekommt mehr ‚Luft‘, die Spannung ändert sich im Gehabe, Stolz und der Macht des Windes.“[2] Den Film mit Wolken vollstopfen, damit alles mehr Luft bekommt. Übersetzt auf das Schreiben: Den Text mit Stimmen vollstopfen, damit alles mehr Luft bekommt. Denn jede stimmliche Artikulation ist ein kleiner Wind. Das ist die vierte Form des Luft-pflanzens: Den Text aufmachen, durchlässig werden lassen. In meinem Schreiben, das essayistisch und nicht im strengen Sinn literarisch ist, bedeutet das – neben dem Stimmenfang –, Informationen hereinzulassen, die von anderswo kommen. Der Text soll Feuchtigkeit aufnehmen können.

 

Kleines botanisches Zwischenspiel

In einem Vortrag über das Luftpflanzen müssen zumindest kurz die Luftpflanzen erwähnt werden. Zumal der eben beschriebene Vorgang des Aufmachens von Text mit ihrer eigentümlichen Existenzweise korrespondiert. In der Fachsprache heißen Luftpflanzen Tillandsien und diese Pflanzen faszinieren mich zunehmend. Tillandsien haben und brauchen keine Wurzeln, sie holen sich alles, was sie zum Leben brauchen, aus der Luft und aus dem Wasser, das der Regen (oder im Fall der Indoorhaltung: die Sprühflasche) bringt. Das besondere an Tillandsien ist, dass sie mit Saugschuppen, so genannten Trichomen, bedeckt sind. Wie Menschenhaare sind die Tillandsien-Trichome abgestorbene Zellen, die die Blätter weißlich oder gräulich erscheinen lassen. Die Schuppenhaare haben zwei Funktionen: Sie füllen sich mit Luft, sodass die Pflanzen äußerlich hell werden und Sonnenlicht reflektieren. Wenn sie nass werden, funktionieren die Schuppen wie Löschpapier: Sie saugen sich mit Wasser voll und versorgen damit die Pflanze. Als Folge des Aufsaugens wird außerdem das grüne Gewebe unter den Trichomen stärker dem Licht ausgesetzt und die Pflanzen können eine Weile stärker photosynthetisieren. Tillandsien ernähren sich wortwörtlich von Luft, denn sie nehmen die für sie notwendigen Mineralien aus dem Staub auf, der herangeweht wird. Und sie treiben unglaubliche, betörende Blüten.

Ende des botanischen Zwischenspiels

 

Wie also schreiben, was kommt, wenn die Zukunft, auch die Nahzukunft unsicher geworden ist? Schließlich macht Schreiben nur Sinn, wenn es eine Zukunft gibt und damit jemanden, der/die das fertig Geschriebene liest. Ich meine damit nicht das längst als Todesverleugnung kenntlich gewordene Ewigkeits- oder Zeitlosigkeitsversprechen der Literatur. Als Antidotum gegen die Idee des unendlichen Lebens der Literatur empfehle ich immer noch Arno Schmidts Erzählung Tina oder die Unsterblichkeit (1955), in der die berühmten Autoren in einem recht bequemen Limbo festsitzen, solange noch irgendetwas Geschriebenes von ihnen auf Erden existiert. Besonders die Klassiker trifft dies hart: Sie langweilen sich – eben grade nicht – zu Tode. Das ewige Leben ist bald unerträglich und treibt noch das lebensfreudigste Genie in die Depression. So ein Überdauern von Geschriebenem meine ich nicht, es geht mir – und ich denke sehr vielen hier geht es ähnlich – darum, etwas zu Schreiben, das es Lesenden ermöglicht, anders auf die Welt in der sie leben, zu blicken. Diese Welt teilen wir und wir teilen sie nicht. Denn unsere Lebenssituationen sind und bleiben unendlich verschieden. Es gibt immer nur kleine Teilmengen dessen, was als Erfahrung überhaupt geteilt werden kann, kleine Überschneidungen von Wissen und kurze ästhetische Gleichklänge; die Erfahrung, dass politische Einstellungen und Wünschen, wie es weitergehen sollte, überlappen. Es gibt – dies dafür weit über den unmittelbaren sozialen Zusammenhang hinaus – kleine Kammern von Zeitgenossinnenschaft, der Rest ist Verschiedenheit, und eben: verschieden starke Gefährdung, verschieden starke und verschieden spürbare Abhängigkeit. Schreiben verstehe ich vor diesem Hintergrund als eine Art Echolot: Ich pinge in eine Richtung und hoffe es kommt ein ping zurück, dann weiß ich immerhin, dass es dort – räumlich und zeitlich – weitergehen könnte, dass es eine verstreute Vielheit gibt, mit der man weiterarbeiten kann. Man erfährt dabei allerdings wenig über all diejenigen, die eine völlig andere Vorstellung von dem haben, wie die Welt zusammengesetzt ist. Die pingen meist nicht zurück. Das nennt man dann neudeutsch Bubble und mir ist zugegebenermaßen völlig rätselhaft, wie die unsichtbaren aber spürbaren Grenzen dieses Schaumbads Teil meines Schreibens werden könnten, außer im good old Modus der Kritik.

Was das „was kommt“ betrifft, scheint mir die größte Herausforderung zu sein, Kontingenz nicht mit Zufall oder Beliebigkeit zu verwechseln. Kontingenz heißt Nicht-Notwendigkeit, aber das heißt gerade nicht, dass Kausalität keine Rolle spielte. Winde sind dafür ein immer noch sinnvolles Modell: Man wird nie genau wissen können, wann der Wind anfängt zu wehen, wird Stärke und Länge des Windereignisses nie genau voraussagen können; dennoch unterliegen Winddynamiken relativ klar bestimmbaren thermischen Einflussgrößen. Mein Schreiben begreife ich als eine Annäherung an solche thermischen Einflussgrößen der Gegenwart. Ich gleiche sie ab mit bereits abgelaufenen Dynamiken, immer eingedenk, dass der Wind unberechenbar bleibt und sich derzeit klimawandelbedingt das Windwissen der Vergangenheit als wertlos erweisen könnte.

Ein letztes Bild für das Luft pflanzen: Drachen steigen lassen. Ein ganz einfacher Vorgang: Einen Windfänger an eine Schnur binden, sobald der Wind sich verfangen hat, brauche ich nur noch mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und spüre und sehe die Kräfte, die weiter oben herrschen. Immer überschießend, wie wir Menschen so sind, erhält das fliegende Etwas sofort andere Bedeutungen: Es wird zum Fabelwesen, zum Messinstrument, sogar zum Musikinstrument; die Flugdrachensymbolik ist – wenig überraschend – ein typischer Fall jahrhundertelanger kultureller Transaktionen und irgendwo werden selbstverständlich Drachen gebaut, die nicht mehr zum Fliegen gedacht sind. So beim Festival de Barriletes Gigantes im guatemaltekischen Supango. Ausgehend vom christlichen Bild des Aufstiegs der Seelen in den Himmel werden inzwischen riesige, flugunfähige Drachen zum Totengedenken, zu Allerseelen, präsentiert. In Handarbeit werden sie übers Jahr angefertigt, politische Forderungen und Gemeinschaftserzählungen in ihnen verarbeitet. Die Formensprache der Drachen ist eine wilde Mischung aus asiatischen, indigenen und europäischen Elementen. Mit einer Suche nach einem bodenständig-verwurzeltem Indigenen kommt man angesichts der Barriletes ebensowenig weiter, wie mit dem Nachweis von Beliebigkeit: Jeder Drache ist ein Unikat und erzählt ganz spezifische Geschichten darüber, wie es sich situiert im Globalen lebt und wie wichtig dafür das Totengedenken ist. Mit Gestängen wird außerdem der Wind ausgetrickst, aus dem Flugdrachen wird das Bild eines Flugdrachens. Die Luft wurde ins Bild eingepflanzt.

Es mag sein, dass die Riesendrachen von Supango ein zu versöhnliches Bild dessen liefern, was ich in diesem Vortrag umkreist habe, ziemlich sicher sogar; von der Kommodifizierung des Fests für Touristen ganz zu schweigen. Nichts entkommt der kapitalistischen Kooptierung. Ich möchte aber daran festhalten, dass im Trauern, im Gedenken an die Toten, mit dem ich den Vortrag begonnen habe, eine wichtige Praxis des getrennt Zusammenlebens in Verhältnissen der Ungleichheit besteht. Ich meine damit nichts Demutsvolles. Ich denke eher an Antigone, die darum kämpft, dass ihr Bruder begraben werden kann; an die Madres del Plaza de Mayo, die die um das Andenken an ihre Kinder, die während der Militärdiktatur verschwunden sind, kämpfen und die aktuell an vorderster Front der Proteste gegen Javier Milei stehen. Ich denke an die Forensiker*innen, die in Kolumbien oder Mexiko an der Aufklärung der Massaker des bewaffneten Konflikts arbeiten und daran, dass Kriege erst dann vorbei sind, wenn ein gemeinsames Gedenken an die Opfer möglich ist. Davon sind wir mit Blick auf die Kriege der Gegenwart weit entfernt. Schreiben als Totengedenken, soviel Ehrlichkeit muss sein, wird uns realpolitisch dem Ende von Kriegen keinen Schritt näherbringen, aber wir können schon mal üben, die Totendrachen fliegen zu lassen. Wenn es dann soweit ist, werfen wir sie in die Luft und folgen ihnen.

Es zieht. Gut so.

[1] Joris Ivens über EGÜDW, Weltenfilmer, 252.

[2] Joris Ivens über Mistral, Weltenfilmer, 204.

 

Vortragstext zur Eröffnung des Symposiums »Schreiben, was kommt. Poetiken der Gegenwart« (6. bis 8. Juni 2024, Köln) – eine Veranstaltung der Kunsthochschule für Medien Köln, des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, des Literaturinstituts Hildesheim und der Universität für angewandte Kunst Wien in Kooperation mit dem Literaturhaus Köln. Besonderer Dank geht an Monika Rinck und Kathrin Röggla.

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