Das Novalis ABC Buch
Rezension in
https://symphilosophie.com International Journal of Philosophical Romanticism
“Symphilosophizing”
Novalis and Friedrich Schlegel after 250 Years
Laure Cahen-Maurel*
- [ Nicholas Saul, Johannes Endres (eds.), Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter, Freies Deutsches Hochstift, Francfort, Göttinger Verlag der Kunst, 2022, 192 pp. ISBN 978-3-945869-13-0 ]
- Walter Zimmermann (ed.), Novalis ABC Buch. Das »Allgemeine Brouillon«. Materialen zur Enzyklopädistik, neu geordnet nach Novalis eigenen Klassifizierungen mit Zeichnungen von Nanne Meyer, Berlin, Matthes & Seitz Berlin, 2022, 312 pp. ISBN 978- 3-7518-0366-3
2. Lernen, das Universum zu lesen. Das Novalis ABC Buch
Im Gegensatz zur Korrespondenz zwischen Friedrich Schlegel und Novalis, die sich bequem in einer streng chronologischen Weise darstellen lässt, werfen die etwa tausend vorbereitenden Notizen, die Novalis 1798-1799 für seine »wissenschaftliche Bibel« schrieb und die uns unter dem Titel Das allgemeine Brouillon überliefert sind, die Frage nach ihrer internen Organisation auf. Novalis selbst hatte sich nicht ganz auf die endgültige Zusammensetzung dieser Seiten festgelegt, die dann nach seinem Tod zerstreut wurden. Offensichtlich war Schlegel nicht in der Lage, hier die symphilosophische Rolle des diaskeuastēs (Editors) zu spielen, indem er die Aufgabe übernahm, die Entwürfe noch einmal zu lesen, die für die Veröffentlichung geeigneten Notizen zu extrahieren und zu sammeln oder die weniger wertvollen zu verwerfen. Der Brouillon ist eine Sammlung mehr oder weniger entwickelter heterogener Notizen. Der Text bewegt sich ohne offensichtliche Progression von den Naturwissenschaften zu den Wissenschaften des Geistes, von den Prinzipien der Materie zu den Prinzipien der menschlichen Intelligenz, von den irdischen Realitäten zu den geistigen Realitäten und umgekehrt. Novalis selbst hatte jedoch eine semantisch angemessenere Gliederung für dieses zunächst verwirrende Werk vorgesehen. Gegen Ende Oktober 1798 begann der Dichter-Philosoph, diese Notizen zu ordnen und sie bestimmten Themenbereichen zuzuordnen, wie Chemie, Medizin, Astronomie, Kosmologie, Zukunftstheorie, Bildungstheorie, Enzyklopädistik und vielen anderen. Aber die Klassifizierung dieser Masse von Notizen wurde von Novalis nie abgeschlossen. Auch hat er die Einträge weder alphabetisch geordnet noch nummeriert; die Nummerierung wurde von späteren Redakteuren hinzugefügt. Von den 1151 Notizen sind 643 unter thematischen Überschriften aufgelistet, d.h. ungefähr nur die Hälfte der Noten, aus denen der Brouillon besteht.
Novalis brach seine Arbeit an der Klassifizierung der Einträge ab, und wir werden wahrscheinlich nie erfahren, welche endgültige Form er für den Text vorgesehen hatte. Sowohl methodisch als auch inhaltlich harrt der Brouillon noch immer einer umfassenden Interpretation. Und der Herausgeber eines solchen Textes, der sich bewusst ist, dass die traditionelle Bedeutung des Wortes »Enzyklopädie« das Programm von Novalis nicht ganz erfasst, hatte keine andere Wahl, als diese Materialien in der chronologischen Reihenfolge zu veröffentlichen, in der sie geschrieben wurden. Diesen Ansatz verfolgte Hans-Joachim Mähl im dritten Band der Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs (HKA) - die historisch-kritische Ausgabe der Werke von Novalis.
Siebenundfünfzig Jahre nach der ersten kritischen Ausgabe in der HKA hat der zeitgenössische deutsche Komponist Walter Zimmermann einen neuen Versuch unternommen und den Faden des Enzyklopädieprojekts an der Stelle wieder aufgenommen, wo Novalis es unterbrochen hat. Unter dem Titel Novalis ABC Buch, erschienen bei Matthes & Seitz Berlin, hat Zimmermann einen Teilnachdruck von Das allgemeine Brouillon: Materialen zur Enzyklopädistik neu geordnet. Entstanden aus einer Zusammenarbeit mit dem Germanisten Josef Schreier, der die Einleitung verfasste und Zeichnungen der bildenden Künstlerin Nanne Meyer, ist das Buch ein »totales« Werk im Sinne einer in Worten geschriebenen Enzyklopädie, aber wie wir sehen werden, ist es auch ein Werk in Bildern und Tönen. Der Grund dafür ist, dass für Walter Zimmermann eine neue Darstellung der wissenschaftlichen Überlegungen zum Brouillon als Matrix für die Umsetzung und Transkription von Textnotationen in musikalische Strukturen dienen kann.
Walter Zimmermann gehört zu einer Reihe von Komponisten, die eine enge Verbindung zur Philosophie haben, die auf einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Werk einiger seiner Lieblingsautoren beruht. Er teilt in diesem Bereich eine Kontinuität mit John Cage. Diese editorische Arbeit ist nicht der erste Versuch von Zimmermann. Er veröffentlichte 2022 bei Suhrkamp eine Sammlung von Reflexionen aus Wittgensteins posthumen Schriften über musikalische Erfahrung und die Grenzen der Sprache, insbesondere der philosophischen.7
Doch Zimmermann hat mehr im Sinn, als das Werk von Novalis neu geordnet herauszugeben. Ein bestimmter Gedanke inspiriert ihn besonders: Es ist die Idee des Schwebens der Imagination, die zwischen zwei Extremen oszilliert. In der poetischen Sprache von Novalis: der »Lichtpunct des Schwebens«, von dem »alle Wirklichkeit ausstrahlt«.8 Diese Idee ist fichteanischen Ursprungs, und dort, wo die Bewegung und die Arbeit der produktiven Einbildungskraft danach strebt, die Widersprüche in der Welt zu überwinden, das Ideale und das Reale miteinander zu versöhnen. Der Begriff »Enzyklopädistik« ist eine weitere von Novalis im Brouillon geprägte Wortschöpfung. Er bezeichnet eine Methode, die ebenfalls auf dieser synthetisierenden Arbeit der Phantasie beruht. Enzyklopädistik ist nicht nur eine Art und Weise, wissenschaftliches Wissen zu organisieren, sondern eine Methode, es durch die Entdeckung von noch Unbekanntem zu erweitern.9 Walter Zimmermann hat dieses Prinzip der Unbestimmtheit kreativ aufgegriffen, um einen weiteren möglichen kompositorischen Weg zu eröffnen: Er überträgt das Schweben der produktiven Imagination in einen kompositorischen Prozess, den er »nicht-zentrierte Tonalität« nennt. - Diesen Prozess hat er in einem Zyklus mit dem Titel Sternwanderung (1982-1984) theoretisiert und erprobt, ebenso in dem 2013 entstandenen Novalis-Fragment.10 Sternwanderung vertonte Passagen aus Novalis' Roman von der blauen Blume, Heinrich von Ofterdingen.
Die Tonalität ist für die abendländische klassische Musik das, was die Grammatik für die Sprache ist: Sie ist ein System, das dem bewegten und flüchtigen Fluss, der die Materie des Klangs ist, von vornherein Bestimmungen vorschreibt. Es verleiht den Noten geregelte Funktionen und bestimmt stabile Beziehungen zwischen festen Werten (den verschiedenen Tonhöhen) und privilegierten Intervallen. Die Sprache der Tonalität zeichnet eine gemessene Anordnung, ein allgemeines Schema von Spannung und Auflösung, bestehend aus Konsonanzen und Dissonanzen, die für das Ohr auf ein tonales Zentrum bezogen werden sollen. Die kompositorische Praxis der »nicht-zentrierten Tonalität« besteht nicht darin, diese musikalische Grammatik aufzugeben. Im Gegenteil, sie zielt darauf ab, »eine Art schwebende Pan-Tonalität« zu erreichen. Das heißt, die Musik »in neue Richtungen fließen« zu lassen und das Ohr »zwischen verschiedenen Zentren« der Anziehung schweben zu lassen, ohne sich auf ein einziges dominantes Zentrum aufzulösen oder neu zu fokussieren.11
Zimmermann erklärt im Vorwort zum Novalis ABC Buch, dass diese Neuausgabe des Brouillon eine Initiative des Komponisten und Musikwissenschaftlers Rainer Riehn fortführt. Inspiriert von John Cages Vorschlag Europeras (1987), einer musikalischen Collage, bei der die Auswahl der Elemente nicht vom Komponisten, sondern vom Zufall getroffen wurde, hatte Riehn 1987-1990 die Idee, eine kleine Zusammenstellung der wichtigsten Gedanken von Novalis zum Thema Zufall zu verfassen, die das Novalis ABC Buch in einem Anhang abdruckt (S. 281-285). Wenngleich unter dem paradoxen Vorzeichen einer romantischen Philosophie, die »die Systemlosigkeit systematisieren« muss12, unterscheidet sich Zimmermanns redaktionelle Aneignung des Brouillon doch recht radikal von Riehns Initiative. Zimmermann verteidigt die Idee eines Systems, in dem eine Intelligenz in der Beziehung zwischen den Teilen besteht. Seine Ansicht ist diametral zu einer in der Forschung immer noch vorherrschenden Meinung, dass die Form von Novalis' Brouillon-Projekt durch eine postmoderne Konzeption gekennzeichnet ist, in der seine Bedeutung durch Unlogik, Fragmentierung und Chaos gekennzeichnet ist. Der Komponist schreibt: »Die Idolatrie des Fragments bei Novalis ist eine ästhetische Kategorie der Moderne, projiziert auf die Frühromantik.« (S. 7). Wir stimmen ihm voll und ganz zu, dass es sich bei den Reflexionen im Brouillon nicht um Fragmente per se handelt, sondern um eine Reihe von wiederkehrenden Einträgen oder Klassifizierungen. Sie sollten als Beweis dafür angesehen werden, dass Novalis sich der Hinlänglichkeit und nicht der Unzulänglichkeit unserer menschlichen Rationalisierungsversuche angesichts der Komplexität des Bestehenden sicher war.
In dieser Hinsicht ordnet Zimmermann seine neue Brouillon-Ausgabe eher dem Rationalismus der französischen Aufklärung zu und entscheidet sich für eine Darstellung, die die Themen in der Art von Diderots und d'Alemberts Encyclopédie behandelt. Dementsprechend sind die von Novalis geschaffenen Rubriken im Novalis ABC Buch in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. Die Klassifizierungen werden also nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt (oder unter dem Zeichen des Zufalls, wie bei Riehn), noch sind sie nach einer Art von äußerlich erzwungener Logik geordnet, wie es bei vielen Zusammenstellungen des Brouillon vor der HKA der Fall war. Eine solche äußere Logik wäre in der Musik mit dem Fall vergleichbar, wo das System der Tonalität dem musikalischen Werk von außen her Bestimmungen vorgibt. Zimmermanns Edition enthält dagegen nur die Einträge, denen Novalis ein klassifikatorisches Thema zugewiesen hat, d.h. bis zum Eintrag Nr. 643 in der HKA; die letzten Einträge 644 bis 1151 werden weggelassen, um dem Quellenmaterial keine fremde Klassifikation zuzuweisen. Wenn mehrere Einträge unter dieselbe Rubrik fallen (z. B. unter Mathematik oder Physik), wird die chronologische Reihenfolge der historisch-kritischen Ausgabe auch innerhalb der Einträge selbst sorgfältig eingehalten. Die Nummerierung der HKA-Einträge wurde ebenfalls beibehalten, und dem Werk ist eine Konkordanztabelle zwischen der neuen Anordnung und der kritischen Ausgabe beigefügt. Damit umgeht das Werk teilweise H.-J. Mähls Ablehnung jeglicher anderen Anordnung als der streng chronologischen Darstellung. In der Tat ist nach Ansicht des Fachmanns Mähl eine chronologische Anordnung die einzige Form, die den von Novalis intendierten semantischen Annäherungen und Verflechtungen gerecht wird.
Die alphabetische Anordnung der Einträge stellt das Werk nicht nur in die Tradition der Enzyklopädien der französischen Rationalisten, sondern macht es auch übersichtlicher. Man sollte nicht denken, dass diese Wahl das Ergebnis einer formelhaften Entscheidung des Herausgebers ist (denn der Band von Wittgensteins Überlegungen zur Musik hat ebenfalls die Form eines ABC Buches). Die Ausgabe von Zimmermann zeigt, dass diese Art der alphabetischen Anordnung dem Brouillon durchaus angemessen ist. Erinnert sei nur an die Aussage von Novalis in den Teplitzer Fragmenten, wo der Begriff »Abc Buch« ausdrücklich verwendet wird: »Vielleicht gleicht das höchste Buch einem ABC Buch«.13 Wie Josef Schreier in Erinnerung ruft, gibt es eine analoge Struktur zwischen einem elementaren Buch, das die Buchstaben des Alphabets buchstabiert, und Novalis' Projekt einer neuen wissenschaftlichen Bibel. Letztere war das Ideal einer Enzyklopädie. Es sollte ein absolutes und totales Buch sein, das sich auf allen Ebenen des Seins entfaltet und alle Wissensgebiete umfasst. Ein Buch, in dem man lernen kann, die stille Sprache und Grammatik des Buches der Natur in ihrer ganzen Vielfalt zu entziffern. Wir müssen noch lernen, die Sprache des Universums zu lesen und zu verstehen, denn »nicht nur der Mensch spricht, sondern auch das Universum spricht - alles spricht - unendliche Sprachen«14 Dies bedeutet, dass es auch möglich ist, eine Ordnung universeller Einfachheit für die komplexen Realitäten zu finden, denen sich der Brouillon zu nähern versucht.
Dieses ABC Buch zur Entschlüsselung dieser Komplexität des Daseins geht von »A« bis »Z«. Der erste Eintrag unter A ist eine Allgemeine Bemerkung über die Vignette als Kunstform, der letzte unter Z eine einschlägige Reflexion über die [psychologische] Zukunftslehre. Die Vignette ist zugleich mikroskopisch und mikrokosmisch. Diese besondere Reflexion über die Vignette, die das Novalis ABC Buch eröffnet, ist das Bild einer Blume. Hier werden die Pollen und der Kelch der irdischen Blume mit dem Himmel oder den Himmeln assoziiert, oder der Mikrokosmos mit dem Makrokosmos (Pollen - Blüthenstaub - ist auch der Titel von Novalis' erster Fragmentsammlung von 1798). Zitieren wir diese erste einleitende Bemerkung:
Alle Asche ist Blüthenstaub - der Kelch ist der Himmel.15
Dieses Bild unter A evoziert die Metamorphose der lebendigen, ewigen Wiedergeburt der Natur, während am anderen Ende der Reise unter Z das Buch mit einer weiteren Reihe von Metamorphosen schließt, diesmal auf historischer Ebene. Die letzte Metamorphose ist eine, die mit dem menschlichen Bewusstsein zusammenhängt: die Metamorphose der Einbildungskraft, einer Fähigkeit des inneren Sinns, in eine äußere und innere Kraft, anstatt nur eine Negation der Äußerlichkeit zu sein. War der Weg, der sich nun aus dieser alphabetischen Lektüre des Brouillon ergibt, von der Natur zur Geschichte, von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Physiologischen zum Psychologischen, ursprünglich von Novalis selbst vorgesehen? Auch wenn die Antwort auf diese Frage notwendigerweise ausbleibt, bleibt die Tatsache, dass eine solche Lesart die Zusammenhänge einer strengen chronologischen Ordnung nicht aufhebt. Im Gegenteil, Walter Zimmermanns Ausgabe hat das Verdienst, dass sie keine Hierarchie zwischen den Einträgen aufstellt, von denen jeder ein autonomes Zentrum bilden könnte. Dies zeigt sich in der visuellen Gestaltung des Buches, wo auf jeder Seite nur ein Eintrag abgedruckt ist. So kann die Lektüre zwischen gegensätzlichen Richtungen oszillieren, und die Bedeutung schwebt in einem Zwischenraum, in dem alles noch unbestimmt ist.
In dieser Ausgabe, die die Möglichkeiten eines ABC Buchs voll ausschöpft, werden außerdem zahlreiche Zeichnungen mit Graphit und blauem Farbstift von Nanne Meyer wie Vignetten den Worten von Novalis zur Seite gestellt. Die Künstlerin wurde vor allem durch ihre Serien Wandlungen, Zeichnungen zur Kartografie, zum Verhältnis von Sprache und Bild, sowie durch ihre Raum greifenden zeichnerischen Installationen zum Universum bekannt. Nanne Meyer bevorzugt das Medium der Zeichnung, um den fluktuierenden Prozess von Gedankenspielen, Wahrnehmungsweisen und Assoziationen, ausgelöst durch die Evokation eines Wortes, zu visualisieren. Schreiben und Zeichnen haben die gleiche Wurzel. Im Novalis ABC Buch füllen die zarten Motive ihrer gezeichneten Anspielungen den leeren Raum der Seiten, wenn die schriftlichen Einträge kurz sind.
Neben der Bedeutung der Begriffe, die im Brouillon schweben, öffnen die Zeichnungen ein Empfinden, das über die Begrifflichkeit hinausgeht. Sie oszillieren zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. So schreibt die Künstlerin Nanne Meyer in einer Anmerkung: »Die Zeichnungen führen vor Augen, was im Text jenseits der Sprache mitschwingt, was nicht in Worten gefasst werden kann und dennoch präsent ist« (S. 11). Nehmen wir zum Beispiel den Eintrag, der unter der Überschrift ERDENLEHRE aufgeführt ist. Er lautet:
»Eintheilungen der Erde. Philosophische, und poetische Geografie. Die historische Geographie ist die Specielle. Kontinente. Fictionen der Astronomie. Sternbilder. Lichtmeßkunst. Sollte man nicht nach der mittlern Stärke des Lichts die Entfernungen berechnen können?«16
© Nanne Meyer
Die Zeichnung bringt diese Vorstellung von der Vermessung der Erde visuell zum Ausdruck. Schwarze Linien, die wie Längsschnitte aussehen, ziehen sich über die Oberfläche des Globus und reichen von einem Pol zum anderen. Blaue Bleistiftlinien, die die nördliche Hemisphäre des Globus umschließen, markieren die Regionen der Welt. Aber das Blau schießt über die Sphäre des irdischen Globus hinaus und bildet gleichsam Bezugspunkte für die Sterne in den himmlischen Konstellationen.
Oder nehmen Sie den Eintrag mit der Überschrift GEISTESLEHRE, der die folgende Überlegung enthält:
»Ächte Unschuld - ist absolute Elastcitaet - nicht zu überwältigen.«17
Dieser Eintrag mit der dazugehörigen Zeichnung könnte im Sinne des niederländischen Philosophen Hemsterhuis interpretiert werden.
© Nanne Meyer
Das moralische Bewusstsein des Menschen (Unschuld) wird mit einer Idee aus der mechanischen Natur (Elastizität) verknüpft. In diesem Fall bezeichnet diese Elastizität des Bewusstseins die positive Flexibilität des menschlichen Gefühls und nicht einen negativen Mangel an moralischer Strenge. Wie die gedehnten blauen Fäden in der Zeichnung von Nanne Meyer versucht die Unschuld nicht, den Raum des anderen zu beherrschen, sondern ruht ruhig im Inneren des Volumens, das durch Bleistiftlinien angedeutet wird.
Aus all den genannten Gründen ist Walter Zimmermanns Lösungsvorschlag für das Problem der inneren Organisation von Novalis' Brouillon ein äußerst anregender, effektiver und kluger Versuch. Wir empfehlen diesen schönen Band wärmstens, der mit seiner durchdachten Komposition, den musikalischen Anspielungen und den Zeichnungen, die zwischen Wort und Zeichen oszillieren, ein mikrokosmisches Gesamtkunstwerk darstellt.
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7 See Ludwig Wittgenstein, Betrachtungen zur Musik. Aus dem Nachlass zusammengestellt von Walter Zimmermann auf der Basis der Transkriptionen des Wittgenstein-Archivs an der Universität Bergen (Frankurt: Suhrkamp, 2022).
8 Novalis, Fichte-Studies, edited and translated by Jane Kneller (Cambridge: Cambridge University Press, 2003), frag. 555, p. 164.
9 For further details on this point, see Laure Cahen-Maurel, “Vers une ‘science totale’ : l’encyclopédistique vivante de Novalis”, Klesis 42 (2018): 79-109.
10 These two pieces can be freely listened to on the SoundCloud website at the following links: http://home.snafu.de/walterz/07.html; and https://soundcloud.com/user-985460328/novalis-fragment.
11 Walter-Wolfgang Sparrer, Ursache und Vorwitz. Walter Zimmermann im Gespräch mit Richard Toop (Hofheim: Wolke, 2019), 147; cited by José L. Besada and Moreno Andreatta in: “...Die Musik in immer neue Richtungen fließen... : Walter Zimmermann et les carrés magiques”, in: Pierre Michel, Moreno Andreatta, José Luis Besada (eds.), Les jeux subtils de la poétique, des nombres et de la philosophie. Autour de la musique de Walter Zimmermann (Paris: Hermann, 2021), 141.
12 Novalis, Fichte Studien (1795 / 1796), frag. 648, HKA 2: 289; Novalis, Fichte-Studies, p. 187.
13 Novalis, Teplitzer Fragmente, fragment 82, HKA 2: 610.
14 Novalis ABC Buch, p. 95. Cf. Das Allgemeine Brouillon, entry 143, HKA 3: 267-268; Notes for a Romantic Encyclopaedia: Das Allgemeine Brouillon, edited and translated by David W. Wood (Albany N.Y.: State University of New York Press, 2007), 24.
15 Ibid., p. 25. Cf. Das Allgemeine Brouillon, entry 339, HKA 3: 301; Notes for a Romantic Encyclopaedia, 51.
16 Ibid., p. 73. Cf. Das Allgemeine Brouillon, entry 107, HKA 3: 260; Notes for a Romantic Encyclopaedia, 18.
17 Ibid., p. 86. Cf. Das Allgemeine Brouillon, entry 188, HKA 3: 273; Notes for a Romantic Encyclopaedia, 29.