10.02.2022

Gletscher

Gletscher

zu Reto Hännys Sturz/Flug

von Uwe Hübner

 

Reto Hänny erhält den Schweizer Grand Prix Literatur 2022 für sein Gesamtwerk!
Der Autor schreibt in allen seinen Büchern die gleiche Geschichte nieder: seine eigene und die seiner Zeit. Was Reto Hänny umtreibt, sind seine Kindheit in den Bündner Bergen, seine Jugend in Ruch (ein Anagramm von Chur), die Zürcher Unruhen der 1980er-Jahre und ihre Unterdrückung durch die Polizei. Seine Texte verarbeiten diese Themen aber nicht chronologisch oder autobiografisch, sondern in Assoziationen, Erinnerungsstücken, Träumen und Erfindungen, vor allem aber durch die Nachahmung, mit der sich Reto Hänny die Weltliteratur aneignet.

Hännys unvergleichlichem Stil, seinen Themen, ja dessen ganz eigener Literatur nähert sich Uwe Hübner in diesem Text über das Buch »Sturz« von 2020.

 

1

Jedem Buch ist eine individuelle Lesegeschwindigkeit eigen, niemand liest die »Göttliche Komödie« im gleichen Tempo wie »Gullivers Reisen«. Allerdings wird das meist nicht bemerkt, nur bei besonderen Texten fällt es ins Auge. Reto Hännys »Sturz« könnte man als einen solch besonderen Text sehen. Wie selten nur kommt es hier auf das angemessene Lesetempo, auf die innere Einstellung an. Entschleunigung ist das Stichwort. Die Sätze sind mitunter lang und ineinander verschachtelt, auch die Zeichensetzung folgt nicht ausschließlich den bekannten Regeln. Letztlich sind aber gerade die formalen Abweichungen funktional – sie lassen innehalten, aufmerken. Dennoch bleibt es ratsam, und sei es nur zur Vergewisserung, wenigstens einmal bei einer der längeren Satzkonstruktionen an den Anfang zurückzugehen und deren Richtigkeit zu prüfen; sie stimmen selbstverständlich immer. In einem vergleichbaren Fall schreibt Friedrich Schiller an Goethe zu dessen weitgefächerten Konstruktionen im »Wilhelm Meister«: … auch ich selbst habe mich erst bei dem zweiten … Lesen davon überzeugen können.

 

Es ist also zumutbar.

 

Blättert man in den Anfangsseiten von »Sturz«, lässt sich feststellen, dass eine Gattungsbezeichnung wie Roman fehlt. Vielleicht wollte Hänny dies offenlassen oder einer akademischen Diskussion dazu von vornherein ausweichen. Literarisch ist das ohnehin uninteressant und merkantil dürfte es bei diesem Werk ebenfalls zu vernachlässigen sein.

Worum geht es in »Sturz«? Ein Junge wächst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in einem Schweizer Bergdorf auf. Drei Generationen sind auf dem familieneigenen Bauernhof versammelt: die Großeltern, Eltern und ein Bruder des Jungen. Nach einigen Jahren wird der Bub – wie der sonst namenlose Junge bezeichnet wird – in die nächst größere Stadt nach Ruch (Chur) geschickt: zwecks höherem Bildungsgang. Und natürlich ist das der klassische Verlauf in jedem Bildungsroman. Die Figur des Buben zieht sich in seiner Entwicklung wie ein roter Faden durch Hännys Text, wenn auch oft unterbrochen. Neben dem Buben gibt es einen zweiten Protagonisten: das Land Schweiz. Als Unterbrechungen schiebt Reto Hänny eine Art Themenkomplexe ein, zum Beispiel über Architektur, Geschichte, Musik, Soziales. Den schillernden Horizont hinter diesen verschiedenen Themenkomplexen und dem Buben bildet das Urmotiv vom Fliegen, der Traum des Ikarus; der Untertitel von »Sturz« lautet »Das dritte Buch vom Flug«.

Und so beginnt Hänny selbstverständlich mit einem Flug. Airport. Sieben Personen, einander unbekannt, begeben sich an diesem Frühsommermorgen im Inneren des Flughafengebäudes zur Abfertigung: … unter versteckten Lautsprechern durch, aus denen, ohne dass man die Schallquellen richtig orten kann, gedämpft Musik rieselt … in den abgeschatteten Räumen im hastenden Gedränge auf Schritt und Tritt gelenkten wie abgelenkt von einer sich auf der Netzhaut einbrennenden Collage aus Dingen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören: Füllfederhalter, Lippenstifte, die wie Projektile aussehen, Kotflügel, Kühlerhauben, Körperteile, Schlünde von Orchideenblüten, nackte Haut, von der eingeölt, eben den Fluten entstiegen, in Schwarzweiß Wasser perlt, jeder Tropfen die Umgebung spiegelnd, einer Akkumulation aufreizender Zurschaustellungen in gekonnt kadrierten Großaufnahmen, die aus von innen beleuchteten Reklamekästen strahlend in Weltformat verführerisch schön für Düfte Uhren Pelze Dessous Strümpfe Schmuck und weitere Artefakte einer hedonistischen Gesellschaft werben …

Dieser Airport könnte überall sein. Die Leserinnen und Leser erfahren seinen Standort jedenfalls nicht, nachdem die Personen abgefertigt, in einem Kleinflugzeug gestartet sind, fliegt die Maschine in einem weit nach Nordosten ausschwingenden Bogen ab Höhe des Bodensees in südöstlicher Richtung über die Alpen – in den Himmel des einundzwanzigsten Jahrhunderts, dies steht zumindest fest.

 

Einhundert Jahre vor diesem stählernen Vogel, am 25. Juli 1909, startete ein nicht ganz so stählerner Vogel von Calais in den Himmel des zwanzigsten Jahrhunderts. Am Steuer saß Louis Charles Joseph Blériot. Sein Ziel ist Dover, er will als Erster den Ärmelkanal überqueren. Anders als der mythische Vorgänger gerät der französische Ikarus dabei nicht der Sonne zu nah, seine Flughöhe beträgt einhundert Meter, was die Sache kaum weniger gefährlich macht. Und so endet denn auch der kühne Versuch wie der in Vorzeiten mit einer Bruchlandung.

Reto Hänny wählt die beiden Flüge, den im zwanzigsten und den im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht zufällig. Er bindet mit den beiden Enden hundert Jahre Fluggeschichte zusammen. Dabei fällt auf, dass der Flug der sieben Personen im Kleinflugzeug zunächst gar nicht erzählt wird. Am Fliegen ist im einundzwanzigsten Jahrhundert normalerweise nichts mehr aufregend.

Umso aufregender geht es bei Blériot zu. Hänny beschreibt die Kanalüberquerung mit epischem Furor, die ganze Passage kommt ohne einen einzigen Punkt aus: … vom Meer her drehend, aus grauem Dunst heraus … der erste Schreckmoment während des Flugs … als, kaum recht über dem Wasser, draus empordampfend unversehens Nebel aufgekommen war und drin eine niederziehende Kraft, die das Flugzeug … wie eine tote Scholle fünfzig Meter fallen ließ, wobei Blériot, als hätten Böen bereits Löcher in ihre Unterseite gerissen, das Gefühl hatte, er würde geradewegs in den düsteren Rachen eines Tiers mit hydrologischem Stoffwechsel steuern, um von dessen Schlund Hals Magen Darm aufgesogen zu werden wie dazumal Jonas vom Wahl … après moi le déluge, schreit er, ans Steuer geklammert von Turbulenzen geschüttelt in die Tiefe sackend … ehe sich die Nebel … zum Glück wieder lichteten, um schließlich von einem weiteren Schreckmoment begleitet zu landen als ein tückischer Luftwirbel den Flug-Apparat erfasste und zu Boden drückte … dass die Maschine … in viel zu steilem Winkel hart aufstieß, das Unterwerk einknickte und verbog, die Schraube sich in den Rasen rammte und zersplitterte …

Hänny erzeugt formal in dieser Passage einen um Nuancen veränderten Ton. Er verwendet umgangssprachliche Wortverkürzung wie draus, drin, Tiers usw. Literarhistorisch ist die Passage dann komplett vermint. Niemand dürfte auf Anhieb bloß einen Teil der Anspielungen erkennen. Niemand ist auch das erste Wort und daher großgeschrieben, womit die ständig changierende Doppelbedeutung verdeckt und gleichzeig sichtbar bleibt. Außerdem ist es ein schon lange benutztes Codewort: von Homer über den Heiligen Niemand, vom vorgeschobenen Täter (Niemand hat das Porzellan zerknallt) über Pound, Benn bis Celan.

Dazu findet sich ein weiterer literarhistorischer Dauerbrenner, der Ikarus-Mythos. Hänny führt den Hinweis auf den Mythos ganz nebenbei ein: es handelt sich um die Hütejungen ein Stück entfernt von Dover. Sie haben die weidende Herde nebst Hirtenfeuer stehen und liegen gelassen, um zum Landeplatz Blériots zu rennen. Wo sie zur Orientierung des Piloten eine weithin sichtbare Leinenbahn ausbreiten und fixieren helfen. In der sumerischen Mythologie findet sich auf einem Rollsiegel die Ikarus-Darstellung eines Königs mit dem Beinahmen Der Hirte, der zum Himmel aufstieg. Mit der Erwähnung der Hirtenjungen umreißt Reto Hänny die gesamte Historie des Mythos von sechsundzwanzig Jahrhunderten. Und indem die Jungen vom angewiesenen Platz bei Herde und Hirtenfeuer verduften, eine Unverlässlichkeit begehen, erheben sie sich in die Freiheit des Träumens vom Traum des Ikarus. Ja, und sie übergeben in »Sturz« als Träger eines unsichtbaren Staffelstabs – über die Zeiten hinweg – den Mythos an einen nächsten Jungen, den im Schweizer Bergdorf wohnenden Buben, der auf dem Bauernhof wie sie manchmal als Hütejunge tätig ist.

Mit der Ärmelkanalüberquerung ist die Darstellung von Louis Charles Joseph Blériot noch nicht beendet. Für die Fortführung zaubert Hänny ein weiteres literarhistorisches Kabinettstück aus dem Hut, Kafkas »Die Aeroplane in Brescia«. Während einer Reise durch Italien sieht Kafka eine Flugshow, an der auch Blériot beteiligt ist. Der Text nimmt im Werk Kafkas eine Sonderstellung ein, nicht nur, weil er als erster deutschsprachiger Autor ein Flugzeug beschreibt, sondern auch wegen des reportagehaften Charakters. Diese Aspekte kommen Hänny entgegen; es liegt somit nahe, dass er sich auf »Die Aeroplane in Brescia« bezieht, beziehungsweise sich den Text anverwandelt. Das ist möglich, weil es zwischen Kafka und ihm eine partielle Affinität im intellektuellen Habitus gibt. Beiden ist eine Brise Humor eigen, beide neigen zu skurrilen Übertreibungen bis zur Karikatur, zur Satire. Reto Hänny integriert Stellen von Kafka in sein Werk. Er überformt, erweitert. Etwa die mit Gabriele D’Annunzio, dem er mit Tommaso Marinetti und Umberto Boccioni zwei weitere Exzentriker am Hofe der Macht zur Seite stellt. Damit erhält diese Stelle in »Sturz« eine politische Ebene – den italienischen Faschismus – wie sie in Kafkas »Die Aeroplane in Brescia« noch nicht vorkommen konnte.

In der Beschreibung Blériots skizziert Hänny eine zeitgeschichtlich bekannte Figur, die in einer Odyssee durch Europa getrieben, von Flugshow zu Flugshow, von Meeting zu Meeting eilt und immer leerer wird. Der einstige Tüftler und Visionär hat auch das Bauen von Bombenflugzeugen nicht ausgelassen. Am Ende steht er irgendwo nach einem abermaligen hektischen Tag vor einem geöffneten Hotelfenster, lässt kalte Luft von draußen wie bei seinem Flug über den Ärmelkanal über sich strömen, ausgepowert, erschöpft. Und denkt: Kann ich überhaupt fliegen, oder habe ich es nur als Kind gekonnt; wie alle

 

Doch damit lässt es Hänny in »Sturz« nicht bewenden. Sein Netz von Anspielungen, Zitaten, Assoziationen breitet er schon auf Seite eins des Buchs aus. Die Schilderung der Hangars auf dem Allerweltairport, die bei zugezogenen Vorhängen eher an geschlossene Bühnen wandernder Komödianten gemahnen, ist ebenfalls ein Zitat Kafkas. Dabei sind die Zitate von Hänny nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet und sollten mit Vorsicht behandelt werden. Im herkömmlichen Sinn dreht es sich nicht um reine Zitate, es sind Überschreibungen, aus dem Wortmaterial zusammengestellte Nachdichtungen. Er verändert die Wortstellungen, tauscht Worte aus; behält den informatorischen Anteil aber bei. Selbst die sieben männlichen Personen des Kleinflugzeugs geraten in Hännys Netzwerk, sie sind eine Spiegelung der sieben männlichen Personen der Blériot-Crew in Kafkas »Die Aeroplane in Brescia«.

 

2

Im Kapitel II verändern sich die Erzählperspektiven. Erstmals tritt der Bub im Bauernhof des Schweizer Bergdorfs auf. Ab jetzt wird »Sturz« teilweise aus der Ich-Perspektive des Jungen erzählt. Mit dem ersten Satz reagiert er auf Blériots Kann ich überhaupt fliegen, oder habe ich es nur als Kind gekonnt; wie alle

… vielleicht wie ich, denkt der Bub. Wobei er um den Stubentisch kurvt, während Großvater auf dem Sofa Publikum spielte … bis ich im Taumel ins Trudeln geriet … mir an der Kante des Kachelofens eine Kerbe in die Stirn schlug und … heulend in Großmutters Arme floh.

Die Passage spielt in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Bub könnte sieben, acht Lenze zählen. Sein Fluggerät ist ein Propeller vom Jahrmarkt, der ihm aus der Stadt von Verwandten mitgebracht worden ist. Das Glück des Buben währt nicht lang, immer ausgelassener spielend nervt er bald allseits, bis einer der Verwandten, der sonst bedächtige Großonkel, den Propeller in einem Wutanfall futternd und wetternd an sich nimmt und zerbricht.

Den Ton erweitert Reto Hänny im zweiten Kapitel um eine neue Nuance. Er verwendet Termini, die nur regional benutzt werden oder aus dem heutigen Sprachgebrauch weitgehend verschwunden sind, um die Welt des Bergdorfes atmosphärisch entstehen zu lassen. Etwa das Verb futtern, das als essen oder schimpfen benutzt werden kann. Aus dem Vorfall mit dem Propeller wird sich bei dem Buben kein Trauma ausbilden. Vergessen wird er ihn aber auch nicht gleich.

 

Als Nächstes lässt Hänny eine Momentaufnahme bäurischen Lebens Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts folgen: … Großvater sah über die mastigen Blumenstöcke auf dem Meiengestell hinweg nach dem Viehstall, wo Vater … mit Patentflicken geplätzten Gummistiefeln auf dem Miststock stand … den Rand des vor der Stallwand in großem Geviert hochaufgeschichteten Mistpyramidenstumpfs fein nachzöpfelnd … die Süberi der Heimkuh, welche an diesem Morgen verworfen hatte, tief im Mist zu vergraben, außer Reichweite der streunenden Hunde aus der Nachbarschaft und der an allem, was nach Blut, nach Lebendigem und Verwesendem riecht, mit gefräßig gewetzten Messerchen herumsichelnden Katzen, die bei einer Kälberung … kaum warten mögen, bis das Kalb im Stroh liegt und der letzte Fetzen Nachgeburt in die Streue … geklatscht ist … mit rosiger Zunge dran herumschleckend … gierig und doch so, als ekle sie davor

 

Und es folgt eine weitere Momentaufnahme. Eine Sammlung Ansichtskarten und Familienfotos, aufbewahrt wie ein kleiner Hausschatz, war in präelektronischer Zeit üblich. Auch die Großmutter des Buben besaß einige Karten, darunter welche aus Amerika gesendet, genauer aus New York. Reto Hänny gestaltet anhand einer solchen Ansichtskarte eine Momentaufnahme – wer sie ansieht, wird nicht genannt – die der obigen des Landlebens konträr entgegengesetzt ist. Manhattan.

Aus der Leere, dem Nichts unerhört breiter Straßen, die im Moment allerdings von zu wenigen, mit falschem Fluchtpunkt stark stilisiert gezeichneten Autos befahren werden … das Gewimmel der Passanten hilflos durch übertrieben die Raumtiefe verdeutlichende Strichmännchen nur angedeutet, stemmt sich … ein ziselierter Fels in die Leere empor, rötlichbraun, von der Farbe verwitterten Backsteins, auf der Karte so ins Bild gestellt, dass die Kante wie der Bug eines Ozeanriesen leicht rechts der Mittelachse dem Betrachter zugekehrt ist.

Mit dem Ozeanriesen ist das Hotel Waldorf-Astoria gemeint. Hänny beschreibt das Gebäude im Stil des Historismus von 1900 exemplarisch im Sinn des Bildungsromans, wofür es Archivmaterial bis zu erhaltenen Grundrissen gibt. Er bietet das komplette Fachvokabular der Architekturgeschichte auf. Mit Worten schichtet er förmlich das Hotel Etage um Etage aufeinander:

Sockelgeschoss und erster Stock in Bruchsteinmauerwerk

darüber Stockwerke in glatten,

von kaum vorspringenden Simsen strukturierten Backsteinmauerverbänden

an den Ecken nacktbrüstige Karyatide

sich mit wulstbäuchigen Atlanten abwechselnd, die mit der Last

über ihnen liegender Stockwerke auf den gekrümmten Schultern

den Bau Stufe um Stufe hochzuwuchten scheinen … Balustraden, Pilaster, Säulenpartien, Architrave, Zierleisten, Tropfenplatten, Triglyphen, Kranzgesimse, Zahnschnitte, Traufleisten, Blendbogen, Volutengiebeln, Kartusche etc.

 

Ein Architekturlexikon, auf das Hänny bei dieser Beschreibung möglicherweise zurückgegriffen hat, befindet sich auch auf dem Bauernhof in der Schweiz, es ist neben Meyers Konversations-Lexikon das zweite Buch vom Großvater des Buben. In dem denn auch der Großvater gelesen hat, dass das Waldorf-Astoria Anfang der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts abgerissen und stattdessen das Empire State Building errichtet wurde.

 

3

Ein Wort sticht bei der Betrachtung der Ansichtskarte des Waldorf-Astoria heraus: abgasablagerungsverschattet. Das damit verbundene Denken ist weder im Sprachgebrauch der Großeltern noch des Buben anzunehmen. Das Wort ist in seiner Tragweite eines des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und es lässt sich mit den Erfahrungen dieses Jahrhunderts denn auch als Synonym des Denkens, des Bewusstseins, des Blickpunkts, des Wissens in »Sturz« lesen! Erst mit dieser Sichtweise erklären sich die Zuspitzungen, Frustrationen, die Gnadenlosigkeiten mancher Passagen. In »Sturz« ist es nicht eine Minute vor zwölf, sondern zwei Stunden nach zwölf. Und wer kann es angesichts der Tatsachen, der fortschreitenden Umweltzerstörung, der Ressourcenvergeudung, der Kriege und Hungersnöte, dem Autor verdenken?

 

Eine solch gnadenlose Passage ist der Pastiche auf Jonathan Swifts Satire »Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am besten benutzt werden können«. An diesem Pastiche dürften sich leicht einige Grundsatzfragen zur Literatur entzünden lassen. Nämlich: Wie weit darf Literatur gehen? Was kann sie leisten? Soll sie etwas leisten? Wie kulinarisch muss sie sein? Verändert Literatur die Welt?

Reto Hänny geht in diesem Pastiche einen eindeutigen Schritt. Die Zeiten haben sich geändert. Er projiziert Swifts Vorschlag, dass Kinder geschlachtet vom Alter eines Jahres ein höchst schmackhaftes Nahrungsmittel bieten und sicher kein Gutsbesitzer zehn Schillinge für den Leib eines guten fetten Kindes verweigern wird, in eine extrem abgehobene, hyperexzentrische Spaß- und Genusswelt. Dazu verlegt er den Ort der Handlung vom armen Irland um 1722 in die reiche Schweiz des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und er überträgt Swifts Vorschlag auf die drei, vier oder sechs Kinder von Einwohnern mit Migrationshintergrund, auf Refugees und sonstige fremde Gestalten.

Welch ein Segen … wäre das in den Augen nicht weniger gerade heute, spinnt Hänny den Gedanken des Kinderverspeisens konsequent fort. Das Desaster der Gegenwart mit Millionen Flüchtlingen, einschließlich ihrer Kinder, ist in dieser Zuspitzung enthalten.

 

4

Für den Buben im Schweizer Bergdorf ist die Zeit ebenfalls nicht stehen geblieben. Er hat von einigen Rüffeln begleitet Lesen und Schreiben gelernt, was wegen einer Legasthenie mühsam genug war. Nicht zuletzt, weil auch in der Schweiz der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Lehrerschaft in puncto Legasthenie ahnungslos dastand. Bald darauf wird der Bub von seinem Kaff auf die Mittelschule in die Stadt Ruch geschickt, beraten von einem Verwandten, der befand, dass aus dem Buben etwas werden solle.

Doch bevor der Bildungsgang des Buben weiterverfolgt wird, findet sich von einer Amerikakarte des Hausschatzes ausgelöst, ein nächster Themenkomplex eingeschoben: der des American Dream. Reto Hänny demontiert in einem seinesgleichen suchenden, zehnseitigen Abschnitt diese Mär. Eine Mär, die in ganz Europa Menschen den Blick vernebelte.

Das Thema taucht in einem älteren Werk bereits auf, in Goethes »Wilhelm Meister«. Auch die Menschen dieser Zeit träumen von einem besseren Land. Während Goethe aus der Epoche der Vorindustrialisierung beziehungsweise Aufklärung schreibt – er war gut informiert und wusste, was die Siedler in Amerika veranstalten –, lässt er seltsam zähneknirschend die Aussiedler in Reih und Glied, ein Lied auf den Lippen, wenigstens geordnet gen Westen ziehn. Außerdem hatte der Klassiker aus Weimar zu seiner Beruhigung immer ein Auge auf die alten Griechen, über die Kolonialisierung des Mittelmeerraumes weiß er gleichsam gut Bescheid. Auch die Griechen, nicht anders als die Siedler in Amerika, haben erst einmal die bis dahin angestammte Bevölkerung umgebracht.

Der Abschnitt kommt in »Sturz«, wie bereits davor einmal, ohne einen Punkt aus. Nur ein Doppelpunkt gibt neben den üblichen Satzzeichen eine zusätzliche Orientierung. Literarhistorisch ist er aus der Autorenperspektive erzählt. Die Leserinnen und Leser mit herkömmlichem Leseverständnis dürften dennoch manchmal zwischen innerem Monolog und Beschreibung schwanken. Was letztlich folgt, ist die Aufhebung jeglicher linearer Erzählstruktur beziehungsweise die Aufhebung chronologischer Abfolge. Man möchte sagen, der Abschnitt ist ein einziger assoziativer Wirbel.

Reto Hännys Desillusionierungsansage umfasst die Zeit der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer bis zu den Tellerwäscher-Millionären und, absurd genug, demokratisch gewählten Präsidenten à la Donald Trump. Auf sämtliche mediale Genres wie Film, Geschichte, Literatur wird zurückgegriffen. Für die frühe Besiedlung zieht Hänny den Romanzyklus »Lederstrumpf« von J. F. Cooper heran, der bereits die gigantischen Massaker an Wildtieren in der Zeit um 1750 schildert. Oder der die Siedler nicht nur gegen die Indigenen, sondern auch untereinander um die koloniale Vorherrschaft kämpfend vorführt. Aber auch die den American Dream illusionär ausschmückenden Westernfilme nimmt Hänny unter die Lupe: Wenn er die Siedler von Wasserloch zu Wasserloch über Stolperpisten ächzend sich durch die Prärie und Steppe mühen lässt, um aus heiterem Himmel von Horden grimmig zurechtgemachter Indianer überfallen zu werden … von der Regie angewiesen, in Rothautmanie alles niederzumetzeln. Wobei die Rothaut-Schurken … in den Schutzgebieten für eine Handvoll Dollar rekrutierte Stuntmanen sind. Auch der Rassenkonflikt zwischen Schwarz und Weiß, eine Prügelei zwischen Siedler und Schwarzem, einem entlaufenen Sklaven, wird erwähnt. Und so mündet der American Dream schließlich über Napalm und Agent Orange in den Albtraum.

 

Einer, der dem Land immer skeptisch gegenüberstand, war Samuel Beckett; ein Buchtitel von ihm lautet »Worstward Ho«, darin schwingt ironisch gebrochen Peitschenknall und Siedlerruf mit.

 

Im Kapitel III ist der Bub wieder präsent. Allerdings war er nie ganz abwesend, er saß nämlich bei einigen der Westernfilme im Kino. Einerseits froh dem Bergdorf entronnen zu sein, ist er noch nicht in das soziale Gefüge von Ruch einbezogen. So flüchtet der Kuhhirt vom Kuhdorf mit dem seltsamen Dialekt in Lektüre. Es sind die Tarzan-Bücher des Autors Edgar Rice Burroughs und die Abenteuerromane Karl Mays, die den Buben in eine Fantasiewelt versetzen und somit durchaus helfen, seine Isolation erträglicher werden zu lassen. Dass es diese Science-Fiction- und Fantasy-Bücher sind, nicht die realistischeren von Cooper, ist nicht verwunderlich. Sie waren im deutschsprachigen Raum stark verbreitet und eigneten sich auch zur Befeuerung der Fantasiewelt besonders.

Dabei bleibt es jedoch nicht. Der Bub, in Ruch bei einer älteren Dame einquartiert, gerät in der Schule an einen ungewöhnlichen Lehrer, der ihn auf gänzlich andere Literatur hinweist. Dieser Lehrer ist ein Geschichts- und Literaturenthusiast, der nicht nur selbst liest, sondern auch andere zu infizieren vermag. In »Sturz« heißt er der große Cla, als Vorbild für diese Figur fungiert der Schweizer Schriftsteller Cla Biert: Fest steht: mit den Wälzern vom großen Cla öffnete sich dem Buben eine völlig neue Welt. Staunend mehr denn begreifend und wie mit Fangarmen umklammert von all den Aromen und Gerüchen, die ihm aus den Seiten die Nase kitzelten: dank der Bücher vom großen Cla … ist der Bub zum Leser geworden, ein Süchtiger und fortan für vieles unbrauchbar. Der »Ulysses« von James Joyce ist die wirksamste Lektüre dieser Phase, sie hilft dem Buben seine Legasthenie zu überwinden.

 

5

Musik. Doch vorher noch einmal zur Gattung. Auf dem Klappentext von »Sturz« steht das Wort Poem, im inneren des Textes mehrmals Collage. Beide Worte sind für das Werk als Gattungsbezeichnung möglich. Der dazu im Vergleich abgehalftert wirkende Begriff Bildungsroman bleibt dennoch wegen der möglichen doppelten Lesart – nämlich auf den Buben und auf die Leserinnen und Leser bezogen – brauchbar.

 

Aber Musik. Schon im Bergdorf wünschte sich der Bub ein Musikinstrument, eine Klarinette. Weil er jedoch etwas werden soll, scheint Klavierunterricht besser. Man spielt nun mal als Bürger Klavier. Inzwischen sechzehn Jahre alt, gerade hat er die Aufnahmeprüfung fürs Rucher Gymnasium bestanden, wird er zu dem mehr als einschüchternden Musiksarg verdonnert. Es kommt wie es kommen muss, der Unterricht wird zur Qual. Und zwar für Schüler und Lehrer. Doch urplötzlich grätscht etwas dazwischen, in der Philosophie spräche man von einem Ereignis. Der Bub gerät zufällig im Radio an Klaviermusik, wie er sie noch nie gehört hat. Es handelt sich um Béla Bartóks »Mikrokosmos«. Damit verändert sich etwas, zunächst zwischen Lehrer und Schüler. Beide sind im gutbürgerlichen Verständnis Außenseiter. Der Klavierlehrer als Versager; er stand vor einer vielversprechenden Karriere als Konzertpianist, konnte aber sein Lampenfieber nicht bezähmen. Der Schüler aus dem Bergdorf gehört in Ruch sowieso nirgends dazu. Das erwachende Interesse des Schülers, der jetzt auch zum Üben findet, lässt den Lehrer aus seiner Routine treten. Allmählich nähern sie sich an, steigen in die Tiefen des Klavierspiels beziehungsweise überhaupt der Musik hinab. Bald mehr darüber sprechend denn spielend, überschreiten sie sich selbst. Wobei ein Musikkanon entsteht, der auf gute Bürgerlichkeit pfeift!

 

Bach

Beethoven

Schubert

Chopin

Schumann

Liszt

Mahler

Debussy

Tournemire

Schönberg

Ravel

Bartók

Webern

Varèse

Berg

Messiaen

Grisey

 

Was als Reihe vollkommen leer erscheint, es auch ist, wird in der Interaktion zwischen Lehrer und Schüler ausgefüllt. Indem der Klavierlehrer … vom plötzlichen Eifer des Schülers begeistert … mit ihm schwierige Rhythmen vierhändig übt … ihm vorzuspielen beginnt, die »Wanderer-Fantasie« mit Schumanns Fantasie op.11 und die »Goldberg-Variationen« mit den »Diabelli-Variationen« vergleichend.

Mit Schumanns Fantasie ist dabei kein Titel aus dem Werkverzeichnis gemeint, sondern Fantasie als freie Verarbeitungstechnik in der Klaviersonate Nr. 1. Es wird in »Sturz« nicht nur Klavier, es wird auch mit falschen Fährten und mit Buchstaben gespielt, eben mit Fantasie op.11, mit Rinderdasselfliege, einmal übers andere Nicht locker lassen – der ehemalige Legastheniker revanchiert sich.

Eindrucksvoll beschreibt Reto Hänny das Lehrer-Schüler-Verhältnis auch anhand eines Chopin-Vorspiels: mit einem verstohlenen Blick auf seine Hände im Schoß schaut der Schüler … fasziniert und erschreckt zu, wie die überlangen, knochendürren Finger des Lehrers, der, den Klavierstuhl so tief wie es geht geschraubt, zusammengekrümmt zwischendurch sich so klein macht, als wollte er unter den Händen in den Flügel hineinkriechen.

Die Musikfreaks werden bei dieser Stelle noch etwas anderes vermuten, eine versteckte Anspielung auf den Pianisten Glenn Gould und dessen ungewöhnliche Sitzposition während seines Bach-Spiels. Eine nächste versteckte Anspielung lässt sich auch aus der folgenden Stelle herauslesen: … der Einzug der Musikkorps mit je unterschiedlichen Märschen auf dem Landsgemeindeplatz, wenn diese sich, in einer Art Surroundeffekt … im Sternmarsch aus den Dörfern außerhalb des Kreisorts hinter dem Schlosshügel auf der verwunschenen Waldwiese trafen.

Die als Kindheitserinnerung des Buben zwischengeschaltete Passage passt nämlich auf die Orchestersuite Nr. 1 von Charles Ives, »Three Places in New England«. Auch bei Ives spielt eine Kindheitserinnerung eine Rolle. Ganz nebenbei gibt es zwischen der kompositorischen Herangehensweise und der schreibtechnischen von Ives und Hänny Parallelen. Wenn Ives in seiner zweiten Klaviersonate ein Zitat aus Beethovens Hammerklaviersonate einflicht, auch sonst auf Zitate von Märschen, Tänzen, kirchlichen Hymnen zurückgreift, dreht es sich um Bearbeitungen, verändert er das Ausgangsmaterial – wie es Hänny bei seinen Zitaten und Pastiches zu Kafka, Swift oder »Der Schatten des Körpers des Kutschers« von Peter Weiss etc. vergleichbar handhabt.

Interessant wird es auch bei Beethoven. Es sind eben nicht mit Opus 109 und 111 zwei der letzten Sonaten, die für den Kanon favorisiert werden, sondern die seltener aufgeführte Hammerklaviersonate und die »Diabelli-Variationen«. Dass eine der tröstlichen Haydn-Sonaten fehlt, die der sechzehnjährige Schüler wohl für Beruhigung halten dürfte, ist gewiss dessen Jugend geschuldet. In diesem Alter will man nicht beruhigt werden.

Ganz anders der Free Jazz, ein zusätzliches Interessengebiet des Buben. Er vergrößert das Musikverständnis und fasziniert ihn. Es ist besonders die Atonalität des Free Jazz, die in Korrespondenz zur Neuen Musik steht.

 

6

Im Kapitel V springt die Handlung ins Bergdorf zurück. Abermals treffen sich die Verwandten. Auch der Großonkel aus der Stadt ist anwesend, der Bub hat den Zwischenfall mit dem Propeller nicht vergessen und hält Distanz. Der Hausschatz an Ansichtskarten und Familienfotos wird gleichfalls erneut mobilisiert. Diesmal geht es um ein Porträt.

Reto Hänny integriert damit einen nächsten Themenkomplex: die Schweiz im Ersten Weltkrieg. Das Foto zeigt den Großonkel als jungen, stolzen Kavallerie-Offizier zur Zeit der Grenzbesetzung, als ums Land der Krieg tobte, andernorts fliegende Kisten Feuer vom Himmel spien, Senfgas ganze Landstriche verätzte, Granaten und Schrapnellgeschosse unterschiedslos Reitern wie Pferden wie flüchtenden Zivilisten die Eingeweide zerfetzten … während hierzulande die asiatische Grippe die Reihen lichtete und Großvater … als simpler Sanitäter … Grippekranke mit Senfwickeln zu pflegen hatte, Todkranke ans Bett binden musste, damit die im Fieberwahn wie Kleinkinder nach der Mutter plärrenden Soldaten …

Die plärrenden Soldaten gehören zu den 68.000 Verwundeten und Kranken von allen Kriegsparteien des Ersten Weltkriegs, die auf Grundlage des Haager Neutralitätsgesetzes in der Schweiz behandelt wurden. Dass dieses Neutralitätsgesetz die Schweiz auch in die Lage versetzte, Waffen- und Kriegsmaterial an alle Kriegsparteien uneingeschränkt zu liefern, es auch praktiziert wurde, macht den humanitären Einsatz freilich etwas weniger edel.

 

Eine literarisch besonders raffinierte Passage erzählt Hänny, die Handlung bleibt im Bergdorf, mit dem Nachspielen einer Sauschlachtung durch Kinder. Der Bub und sein Bruder sind mit von der Partie. Die Passage wird einige Seiten zuvor als reale Sauschlachtung vorbereitet. Im Kinderspiel werden dann zunächst die Rollen verteilt: ein ältere Junge stellt den Metzger dar, Gion Giusep und Maria, zwei zugezogene Kinder, die mit unserem hochheiligen Versprechen, sie wegen ihrer gutturalen Oberländer-Laute nicht länger zu hänseln, für ein paar Täfelchen Schokolade und eine Handvoll seit Ostern aufgesparter Zuckereier bereit sich auszuziehen sind, spielen den Eber und die Sau. Ein anderer Junge spielt den Metzger-Lehrling; die restlichen Kinder schauen zu.

Was dann folgt, ist ein ineinander verschlungener Text von drei Erzählmotiven: als erstes ist es das erwähnte Sauschlachten, als zweites ein sexuell aufgeladenes Dökterlen, als drittes eine Kreuzigung. Sicher verwundert die Kreuzigung bei den Namen Gion Giusep und Maria nicht. Verwunderlich wäre eher, wenn den Leserinnen und Lesern bei dieser Passage der Atem ruhig bleibt.

 

7

Der neben dem Buben definitiv zweitwichtigste Aspekt in »Sturz« ist die Schweiz. Tatsächlich lässt sich das Land als zweiter Protagonist betrachten. Das liegt natürlich daran, dass der Bub in dem Land geboren wurde und sein Leben dort verbringt. Aber auch daran, dass der Autor Reto Hänny Schweizer ist. Hänny verfügt über einen enormen Wortschatz, den nur ein Schweizer so haben kann. Einen der Gründe dafür illustriert er an einem Ort im Dreiländereck, dessen Sprache nicht weiß, ob sie sich für Italienisch, Rätoromanisch oder Südtiroler Deutsch entscheiden soll. Hänny verwendet neben dem Schweizer Hochdeutsch alle möglichen Varietäten. Und er erzählt in »Sturz« nicht bloß einhundert Jahre Fluggeschichte, sondern einhundert Jahre Schweizer Geschichte. Für einen Autor steht hier sein ureigenstes Element, die Sprache, notwendig an erster Stelle. Hänny bezieht die Palette der in der Schweiz gesprochenen Sprache dieser hundert Jahre ein! Also auch Idiome, die aus dem Gebrauch inzwischen verschwunden sind. Er aktiviert sozusagen hundert Jahre Sprache in ihrer sprachgeschichtlichen Metamorphose.

 

Dass in einem Buch mit dem Titel »Sturz« zahlreiche passieren, versteht sich. Vorzugsweise sind es männliche Glieder der Spezies, die zu Sturz kommen und vorzugsweise unter Alkoholeinfluss. Getrunken oder besser gesoffen wird dementsprechend reichlich, auch der Bub ist zeitweise involviert. Da haut es einen sturzbetrunken … schwungvoll in den Dreck; stürzen Katzen, aus wie großer Höhe auch immer ab; kommt jemand auf dem Heimweg vom Club nahe der Kaserne in einem Kanalisationsschacht zu Tode; ist wer im Vollsuff … durch den Sturz zum Genie geworden; ist einer unauffindbar in die tiefe Klamm gestürzt; ist wer durch seine Bruchlandung … und die anschließende Sauftour doppelt abgestürzt …

 

Auch wenn Hänny über den American Dream schreibt, denkt er an die Schweiz. Sie ist gleichfalls ein Traumland und sei es nur als Steueroase. Idealistisch überhöht durch einen kränkelnden Poeten aus dem Schwäbischen … indem er eine nordische Sage über einen mutigen Terroristen aufmöbelte, dem Land andichtete, dass es die Freiheit im Herzen Europas seit Urzeiten gepachtet hat. Reto Hännys entsprechende Desillusionierung findet sich über die gesamte Länge seines Buches verteilt.

Das letzte Kapitel lässt sich dann als Reprise des ersten Kapitels verstehen. Leserinnen und Leser geraten abermals in den Allerweltairport und darauf in den Flieger. Die im ersten Kapitel weggelassene Erzählung über den eigentlichen Flug wird in der Ich-Perspektive als Finale ausgeführt. Der Bub aus dem Bergdorf, um fünfzig, sechzig Jahre gealtert, entpuppt sich als der Erzähler: Wir drehen ab, in Richtung Bodensee. Auch diesmal bleibt das genaue Flugziel ungenannt, über die Alpen hinweg soll es gehen, die Schweiz wird jedenfalls verlassen: dieser Abschied – oder ist’s Flucht? – gehört gewürdigt. Ein tüchtiger Schluck Schnaps, und noch einer … mag fürs erste alles runterspülen. Hänny begnügt sich auch dabei nicht mit einfachen Beschreibungen. Es sind Variationen ohne eigentliches Thema das eine aus dem andern sich entwickelnd. Bereits bei den Mitpassagieren beginnt es, aus den einst sieben Personen sind elf geworden. Auch das Flugzeug variiert. Mal ist es eine Fairchild Metro, mal könnte es eine Ju 52 beim Rundflug über die Schweiz sein, mal eine Montgolfiere aus Jean Pauls »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«.

Und während der alte Bub aus der Höhe durch das Fenster des Fliegers auf seine Schweiz schaut, gerät er immer tiefer in die Fänge einer ihn anwandelnden Melancholie: Land zersiedelt, die Stadt ausufernd in einstmals behäbige … schleichend versteinerte Bauerndörfer, deren von Straßenkreuzungen gesprengte Kerne ein Gürtel aus Beton und Zement erstickt … Areale der Verrottung mit allem, was der Wohlstandverwahrloste zur Freizeitbewältigung im Geländewagen bequem zu erreichen möglichst nah vor seiner Haustür begehrt … das Land zerfransender Trümmerhaufen von ins Raster gezwängtem Architektur-Müll, ausgekippt über den Moränen verschwundener Gletscher … ein Stich durchfährt einen, als man, ganz aufgeregt, die weiße Spitze im letzten Moment durch die Luke erspäht –, das in einem Stausee ertränkte Tal der Kindheit.

 

Oder sollte alles nur Traum sein –

 

 

 

 

© Uwe Hübner

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