Über Exile.
Die Ereignisse in Deutschland, die ich großenteils in Berlin, Unter den Linden, mitmachte, haben mich zunächst sehr stumm gemacht und ganz auf meine Dinge zurückgeworfen, notierte Theodor Wiesengrund-Adorno im Jahr 1934. Und weiter Adorno:
Meine Arbeit an der Universität hörte schon Frühjahr 1933 auf; die venia legendi verlor ich im Herbst vorigen Jahres, an meinem 30. Geburtstag. Dann kam ich in Berlin in Kontakt mit der Vossischen Zeitung, ich machte mir Hoffnung auf die Kritikerstelle, aber der Tod der Zeitung hat diese Hoffnungen mitgenommen und ich denke, es war gut so, obwohl ich mich an die Möglichkeit verzweifelt klammerte, da ich um jeden Preis in Deutschland zu bleiben suchte. Als es dann aber gar nicht mehr ging und eine Möglichkeit nach der anderen, auch die bescheidenste mir genommen war – selbst Musikunterricht durfte ich nur an »Nicht-Arier« erteilen, habe ich mich doch entschlossen zu gehen und begab mich im Frühjahr 1934 nach London.
Exil, unfreiwilliges, hängt als Transparent über dem Leben Hunderter und Tausender Denker und Kunstschaffender nicht erst des 20. Jahrhunderts, von zu Georg Büchner, Heinrich Heine, Karl Marx hin zu Sigmund Freud, Thomas Mann, Bert Brecht, Hanns Eisler, Arnold Schönberg, Margret Mahler, Anna Freud, Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler, Hannah Arendt, Fritz Lang, Max Ernst, Max Beckmann, Walter Benjamin, Raul Hilberg, um nur einige der schier endlosen Anzahl der Namen Geflüchteter, deren hohe Bedeutung für unser Leben außer Frage steht, in Ihnen, liebe ZuhörerInnen, aufscheinen zu lassen.
Historisch an der Spitze dieses langen Zugs der aus ihren Lebens- und Denkbereichen Vertriebenen: der Römer Publius Naso Ovid; weg aus der Weltzentrale Rom, verschifft ans Schwarze Meer; dorthin, wo der »Hadeseingang« vermutet wurde (auch von ihm selber). Und von dort aus musste er ihn auch nehmen. Von ihm zehrt dann fast das gesamte »lateinische Mittelalter«.
Unter ihnen sehr viele Juden, religiös praktizierende oder auch nicht. Der, den wir heute als T.W. Adorno kennen, ist Sohn des Frankfurter Paars Oscar Wiesengrund und Maria Calvelli-Adorno – er »israelitisch«, sie »katholisch« laut Heiratsurkunde –, er Weinhändler, sie Opernsängerin; eine im Selbstverständnis deutsche Familie. Theodore Adorno – diesen Namen erhält er im Exil mit der Zuteilung seines Passes als amerikanischer Staatsbürger, wird bewusster »Jude« erst »durch Hitler«, wie zutreffend vermerkt wurde.
Sehr oft sind Werke der Exilierten, die später ihren Ruhm begründeten, im Exil entstanden; bei Adorno: Die Dialektik der Aufklärung, u.a.
Denken in der Fremde. Kunst in der Diaspora. Im sog. »Bodenständigen« finden sie sich selten. Produkte von Vertriebenen. Heißt: »Denken« ist nicht normal. »Kunst« wächst nicht gut auf Heimat-Krume.
Beide aber können »kindlich« sein, auch in Exilen. Adorno:
Seit ich denken kann, bin ich glücklich gewesen mit dem Lied: »Zwischen Berg und tiefem tiefem Tal« von den zwei Hasen, die sich am Gras gütlich taten, vom Jäger niedergeschossen wurden, und als sie sich besonnen hatten, daß sie noch am Leben waren, von dannen liefen. Aber erst spät habe ich die Lehre darin verstanden: Vernunft kann es nur in Verzweiflung und Überschwang aushalten; es bedarf des Absurden, um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen. Man sollte es den beiden Hasen gleichtun; wenn der Schuß fällt, närrisch für tot hinfallen, sich sammeln und besinnen, und wenn man noch Atem hat, von dannen laufen. Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche...
Es wird kaum ein deutschsprachig aufgewachsenes Kind geben, das nicht vom Glück dieser »zwei Hasen« begleitet wurde. Allerdings nur wenige, denen daran die Gleichzeitigkeit von »Verzweiflung und Überschwang« als Grundlagen der »Vernunft« aufgingen; und daß es »des Absurden« bedarf, »um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen«.
Wörter, die aber das eigene Leben betrafen. Ich war geographisch exiliert worden als 3-Jähriger aus Ostpreußen, nahe russischer Grenze, in äußerste Region Nordwest, Schleswig-Holstein, Grenzregion zu Dänemark; verpflanzt innerhalb des gleichen Lands, innerhalb des gleichen Sprachraums. Das Wort »Exil« gab es in der Familie nicht. Wir waren »Flüchtlinge«, genauer Heimatvertriebene, eins der frühesten Worte in meinen Ohren; heimatvertrieben vom Russen! Die Eltern, die sechs Kinder durchzubringen hatten, einquartiert im Dorf Ostenfeld, Nähe Husum, beim Bauern Hansen, der, wider Willen, zwei Zimmer abtreten musste für uns acht Geflüchtete, wollten zurück, und glaubten daran.
Im Radio war zu hören von »Emigranten«, die Deutschland verlassen hatten unter Hitler; in Verletzung ihrer Pflichten als Deutsche. Verräter, Verbrecher, die nun zurückkamen nach »Deutschland«;Thomas Mann! »Deutsch« war das Wort für »Gut-Sein«. Das Gegenteil von verbrecherisch. Thomas Mann das Wort für »undeutsch«.
Solches Umspringen mit den bundesdeutschen Realitäten und den Realitäten des zurückliegenden 2. Weltkriegs war auf Dauer unhaltbar. In unserem Teenager-Werden kam uns genug zu Ohren über das von den Alten schmerzlich vermisste »3. Reich«. Ab ca. Alter vierzehn konnte man uns nicht mehr kommen mit »verlorener Heimat« etc. Und bis zum Abitur hin hatten sich Wortfetzen, Bruchstücke, Tatsachen-Rudimente festgesetzt in unseren Schüler-Köpfen, gefüttert von einigen vernünftigen, jüngeren Lehrern, die uns – vorsichtig – unterrichteten von den Taten unserer Elterngeneration im Hitler-Staat – aus dem sie, mit vollem Recht, wie sie fanden, »die Juden« vertrieben hatten; da diese den Deutschen, »uns« »das Lebensrecht« hatten nehmen wollen: »Zinsknechtschaft«, »Blutvergiftung«, »Kommunismus«.
Diese Erfahrung teilten all jene Gleichaltrigen, die zu Freunden wurden im Lauf der Schuljahre. Dass Schleswig-Holstein das braunste aller braunen Biotope war, die die junge Bundesrepublik Alt-Nazis zum Weiterleben und Weiterwirken anbot, konnten wir nicht wissen als 16-Jährige; aber wir ahnten es, die O-Töne und Abwehr-Gesichter der Altvorderen in den Ohren und vor Augen; insbesondere in der Alt-Nazi-Stadt Flensburg, wo unsere Familie schließlich gelandet war; Ort meiner letzten drei Gymnasiumsjahre.
Dies resultierte für »uns« in einer speziellen Art »Exil«. Das Sprechen mit den Eltern wurde schwieriger im Maße, in dem ihr Schweigen unüberhörbar wurde, sobald es auf die Tätigkeit der Deutschen im Krieg und auf ihr eigenes Nazi- oder Nicht-Nazi-Sein kam. Aus dem befangenen Schweigen wurde bald, beim Vater, offene Wut, wenn man ihn mit Tatsachen der »Hitler-Zeit« konfrontierte. Und Wut des Vaters bedeutete in der Regel: es drohen Schläge.
Die Sprache der Erwachsenen (zu mehr als 90% sowieso aus Befehlen oder Anweisungen bestehend, soweit sie von unserem Vater kam), engte sich ein zum Standardsatz: »Du hast damals nicht gelebt. Du kannst das nicht verstehen« – und Klappe jetzt.
Das Sprechen mit den Alten »über diese Dinge« wurde eingestellt und dann verlernt. Das betraf »die Erwachsenen« insgesamt. Ich übertreibe kaum, wenn ich behaupte, von ca. Alter vierzehn bis ungefähr siebenundzwanzig kaum einen freiwilligen Satz zu einem Erwachsenen gesprochen zu haben ohne Verhaspeln, ohne Erröten, oder sonst einer Form von begleitendem Unwohlsein.
Mit Alter 18, 19 waren »wir« – die Gruppe Gleichempfindender – bei der unabweisbaren Frage angelangt: »Wie kann man Deutscher sein«? Wie kann man ins Leben kommen als »Deutscher«; als Angehöriger dieser Verbrechernation; wie soll man irgendeiner nicht-deutschen Person unter die Augen treten mit dieser Geschichte! Die Möglichkeit, vor Scham im Boden zu versinken, hätten wir gerne wahrgenommen; funktioniert aber nicht.
Selbstverständlich wäre es unangemessen, dies eigene »Exiliert-Sein« mit dem Exil derer, die vor den Nazis in andere Länder flüchteten, gleichzusetzen; aber in Beziehung setzen kann man es.
»Coming of age«, wie das heute heißt, erleben pubertierende Jugendliche oft als eine Art »Exil«; meist ein vorübergehendes; mit Rückkehr in den »Norm-Verlauf« des Älter- und sog. »Reif«-Werdens. Für »uns« war dies Exil ein dauerndes. Ein »Zurück« in die Welt der Alten gab es nicht. »Ihr habt doch den Polen das Land wegnehmen wollen und den Russen alles bis zum Ural. Und jammert hier dauernd von verlorener Heimat«. Mehr als einmal hab ich das nicht geäußert dem Vater gegenüber, und weiß bis heute nicht, wie ich das überlebt habe.
»Die Erwachsenen« waren von »uns« erkannt als manifest Verrückte; wir waren Fremde im eigenen Land; in der eigenen »Kultur«, wie die Verrückten das nannten (und der Rest der Welt war angeblich ohne diese »Kultur«, der Russe und noch mehr »die Neger«, deren Musik wir ständig hörten; als Folgen von »Verjudung«).
Vom Ausmaß des systematischen Mordens allerdings wollten sie keine Kenntnis gehabt haben. »Etwas zu viele« Umgebrachte – höchstes Zugeständnis unseres Vaters; preußischer Eisenbahnbeamter im mittleren Dienst auf der Seite des Ewig Guten.
All unser Sprechen war übergegangen an Gleichaltrige. Hier hatte ich »Glück«; es gab immer Freunde, mit denen man spielte, diskutierte, trank und las, die ähnlich dachten. »Glück hat man nicht; im Glück ist man«, las ich später bei Adorno. D'accord; er hatte Recht, wie nahezu immer, der Mann.
Vielen von »uns« war Freud in die Finger geraten. Wir waren Leser; Literatur der Exilierten, Thomas Mann, Brecht natürlich, der very busy war, die westdeutschen Theaterbühnen zu erobern. Mit 19: Freuds Traumdeutung; im Gymnasium Brechts »Kleines Organon«; ein junger Geschichtslehrer kam mit dem »Kommunistischen Manifest«, Autor Karl Marx. Die rororo-Tucholsky-Taschenbücher fanden sich in jeder Tasche. Auch – außerhalb der Schule – Henry Miller.
»Philosophie«? Bißchen Kant, bißchen Sartre. Massiv nur einer: Albert Camus. Die Kombination von »Der Fremde« und »Mythos von Sisyphos« ergab genügend selbstgewisse Traurigkeit: Die Menschen sterben und sie sind nicht glücklich. – Der Selbstmord ist das einzige wirkliche philosophische Problem.
Absurd – wie die Welt eben war. Wie wir selbst uns phantasierten an Biertheken als (edle) Halbkriminelle: den perfekten Bankraub ausbaldowern; ohne Tote, ohne Gewalt, das würden wir hinkriegen. Und dann, mit dem Sack voll Geld, abhauen ins nazi-freie England.
Mit diesem Inventar bin ich auf die Universität gekommen, 1962. Die Germanistik – enttäuschend. »Literatur« hatte ich erwartet, Literatur ohne Ende, mit gewieften Leuten. Statt dessen: Sekundär, Sekundär, Bibliographieren, Bürokratenzeugs. Schnell weg da. Untergetaucht in der Studentenbühne. Wir spielten die »französischen Absurden«, Ionesco, Audiberti, Tardieu, verschlangen Camus, Kafka, Beckett. Endspiel.
Auf einem der Uni-Flure aber ein Aushang, Seminar bei den Philosophen; ein Professor Bröcker bot an: Vom Wesen des Grundes. Dem Versprechen, womöglich das Wesentliche am Grund dieser absurden Existenz zu finden, war nicht zu widerstehen. Text von einem Herrn Heidegger. Eine seltsame Erfahrung: Da waren Leute versammelt, die sich delektierten an dahingestelzten, verdrehten Sätzen, die bei mir nicht nur nicht die geringste Form von Begeisterung auslösten; im Gegenteil, ich fand (ziemlich schnell sogar), der Mann kann nicht schreiben. Das konnte es doch nicht sein, »das Wesen des Grundes«.
Hier erneut das Glück, das man »nicht hat«, sondern in dem »man ist«. Das Glück, Teil von Gruppen zu sein, wo irgendeiner immer schon mal »was gehört hat«. He, Heidegger, Jargon der Eigentlichkeit, Theodor W. Adorno, edition suhrkamp, kuck da mal rein.
Den Band hab ich noch, Erstausgabe 1964. (Hochhalten, blättern). Sie sehen, kaum eine Seite ohne Unterstreichungen; grob, wie ich das damals machte, wenn kein Bleistift zuhanden war, mit dem blauen, fetten Kugelschreiber; ganze Absätze unterstrichen; den groben Einschlag ins eigene Gehirn heftig manifestierend.
Adornos Kritik an Heideggers Sprache lief auf die Feststellung hinaus, in dieser Sprache könne man überhaupt nicht denken; sie sei schlicht nicht geeignet für »Philosophie«.
In den zentrale Begriffen des »Jargons« wie
»existentiell, ›in der Entscheidung‹, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Anliegen, Bindung«
zeige sich eine Verfallsform von Sprache,
nur noch dazu da, die Menschen von dem abzuhalten, was sie etwas angeht. (85) Das war schön und scharf. Adorno:
Wer den Jargon plappert, auf den kann man sich verlassen; man trägt ihn im Knopfloch anstelle derzeit nicht reputabler Parteiabzeichen. (…) Glücklich überwintert im Jargon die Zweiteilung zwischen Zersetzendem und Aufbauendem, mit welcher der Faschismus den kritischen Gedanken abschnitt«. (20f)
Da war das Kennwort: »faschistisch«. Der hier schrieb, bekämpfte in Heideggers Schreiben »das Faschistische«; festgemacht auch an dessen Lobpreis der »Bodenständigkeit«, von Adorno verhöhnt als »Bauernsymbol aus sechster Hand«. Dazu dies:
»Kogons Mitteilung, die ärgsten Greueltaten der Konzentrationslager seien von jüngeren Bauernsöhnen verübt worden, richtet alle Rede von Geborgenheit; die ländlichen Verhältnisse, ihr Modell, stoßen ihre Enterbten in die Barbarei«. (25)
Das fand ich später, beim Schreiben der Männerphantasien, bestätigt. Die »wurzellosen Intellektuellen« fand ich da wieder, über die Adorno in Heideggersätzen gestolpert war. Diese würden in Heideggers Philosophie »den gelben Fleck des Zersetzenden« tragen; ein untergründiger Antisemitismus war angesprochen. Bis zum Befund:
Heideggers Einordnung in den Hitlerschen Führerstaat war kein Akt des Opportunismus, sondern folgte aus einer Philosophie, die Sein und Führer identifizierte. (17)
Um dies festzustellen, 1963, brauchte man, wie Adorno zeigt, weder Heideggers »Schwarze Hefte« noch die Zitate aus seiner Rektoratsrede 1934 (gehalten in SA-Uniform und Stiefeln).
Mein Vertrauen in Adornos »Urteil« war sogleich das höchste.
Der schönste Satz in Adornos Heidegger-Attacke: dessen Gerede von einer »prästabilierten Harmonie« wolle »den Verdacht übertäuben, der Philosoph könnte ein Intellektueller sein. (47) Der Philosoph, der Angst hat, er könne als ›Denker‹ erkannt werden – nicht weniger als ein Knockout.
Ich machte mich kundig über Theodor W. Adorno, vor den Nazis emigriert nach England und in die USA; jetzt Institut für Sozialforschung, Universität Frankfurt. Das Erstaunlichste sein Geburtsjahr: 1903. Nur zwei Jahre entfernt von meinem Vater, 1901. Ein ausgewachsener Erwachsener – und sprach nicht nur annehmbar, sondern betörend. Adornos Töne aus diesem Buch waren – natürlich übertreibe ich; und übertreibe auch nicht – die erste Erwachsenenstimme im politisch-denkerischen Raum, die mir »ernsthaft« vorkam, 1964.
»Deutsch sein heißt gehorchen« (war die Rede meines Vaters). Adorno – dem Vater beinah altersgleich – spottete stattdessen über die »alte Sitte des deutschen Idealismus, die Freiheit nicht in den Mund zu nehmen ohne den Zusatz, sie sei eins mit dem Gehorsam«. (108)
Dies war der erste richtige Alte, dessen Stimme durchdrang ans eigene Ohr. Und nicht von ungefähr: aus ihm sprach auch das Denken Sigmund Freuds, dessen »Traumbuch« zu einer Art Startrampe geworden war fürs eigene psychoanalytische Dilettieren: gegenseitige Traumdeutung als Kneipen-Roulette für die späte Stunde.
Ich habe aber etwas übersprungen; ein anderes »Im-Glück-Sein«. Zwar konnten wir den Hessischen Rundfunk nicht empfangen, in dem seit ca. 1960 die Stimme Theodor W. Adornos des öfteren zu hören war. Empfangen konnten wir dafür die Besatzungssender, BFN und AFN.
Die hatten ab 1956 dafür gesorgt, dass wir das drohende Vakuum unseres »Exiliert-Seins im eigenen Zuhause« nicht einfach als »Leere« empfanden und auch nicht primär als »Leid«, wie es das Schicksal so vieler der vor den Nazis Geflüchteten war. Uns überfiel die »amerikanische Kultur« mit einer neuen Art Musik; zunächst als Rock 'n' Roll; bald sichtbar darin die Musikform, die hinter allem Rock und Boogie sich verbarg: der zwölftaktigen Blues; Black Music. Zu Elvis, Chuck Berry und Little Richard gesellten sich Big Bill Broonzy, Lightnin' Hopkins, die schwarzen Sängerinnen, Bessie Smith, Ella, Billie Holiday, Sarah Vaughn; Mit 18, wo man als Jüngling der ominösen »Mann-Werdung« sich nähert, war ich den Nachkommen der amerikanischen Sklavenkultur näher als allen »normalen« weißen Deutschen. Wenn ich heute unter das Label »alte weiße Männer« gereiht werde, stimmt das immerhin nicht ganz, da ich nie einfach ein junger weißer Mann war.
Mit 15 die ersten Gitarrengriffe, dann Banjo, Klavier, Trompete, später die Saxofone. Auf der zweiten LP, die ich besaß, sang Roy Eldridge: What did I do/to be so Black and Blue; ich sang das mit; Schwarz war meine Hautfarbe nicht, aber »der Körper innen«, ziemlich schwarz, und »Blue« sowieso. »Black roots«? Hatten wir nicht. Aber das Gefühl, die tollsten Menschen auf Erden sind schwarz und sind Musiker.
Damit kratze ich am »Kurzschluß« im Bau dieser Rede, dessen Funkenschlag, Sie, verehrte ZuhörerInnen, längst antizipieren. Denn wer von Ihnen wüßte nicht, daß Theodor W. Adorno in den USA gelernt hatte, die Produkte der amerikanischen Unterhaltungsindustrie abgrundtief zu verachten, und zwar unter dem Transparent: »barbarisch«. Das frisch gekürte Wort »Subkultur« machte Adorno geradezu wütend.
Ich lege diesen Hebel aber noch nicht gleich um; wait a moment.
Hintergrund allen Denkens und Schreibens Adornos nach dem Krieg ist nicht einfach »Exil«, sondern jenes, von dem geplant war, niemanden von dort zurückkommen zu lassen, Auschwitz. »Auschwitz« nicht nur als Zentralort der fürchterlichsten Formen der Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen; sondern Auschwitz als den Inbegriff für den Vorgang »Barbarei« innerhalb der europäischen Kultur der »Aufklärung«. Diese – das Abendländische – sei durch Auschwitz zurückgefallen in den Zustand der voraufklärerischen, der vorzivilisatorischen »Barbarei«; und dies sei ein Zug, angelegt in dieser bürgerlichen Aufklärung selbst; so entfaltet von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung, 1944. Die Frage in unseren Körpern: Wie kann man leben als Deutscher nach Auschwitz.
In Adornos Radiovortrag »Erziehung nach Auschwitz«, April 1966, heißt es:
Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz w a r er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte. Unter den Einsichten von Freud, die wahrhaft auch in Kultur und Soziologie hineinreichen, scheint mir eine der tiefsten die, daß die Zivilisation ihrerseits das Anti-Zivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt. Seine Schriften »Das Unbehagen in der Kultur« und »Massenpsychologie und Ich-Analyse« verdienten die allerweiteste Verbreitung gerade im Zusammenhang mit Auschwitz. (88)
Dieser Text, Erziehung nach Auschwitz, Radiovortrag im Hessischen Rundfunk, beginnt mit den Worten:
Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen, noch zu sollen.
Ich finde diesen Satz zu »Auschwitz« zitiert in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im April 2021; von einem jungen heutigen Pop-Musiker, Danger Dan von der Gruppe Antilopengang.
Er drückt damit sein Unverständnis aus über eine heute in der BRD verbreitete Tendenz, mit der Verurteilung von Handlungen des heutigen Israel gegenüber den Palästinensern, sich auf die Seite der »Gerechten« in der Geschichte zu stellen; als ob man den Makel, zu den Nachfolgemenschen der mordenden Nazis zu gehören, abwaschen könnte durch Vorwürfe an das heutige Israel. Als ob irgendeine Handlung israelischer Regierungen, Siedler oder der israelischen Armee etwas ändern würde an dem, was die Nazis den europäischen Juden angetan haben. Das »verjährt« auch nicht. Israelische Bürger, die in Opposition zum Vorgehen des Staates Israel stehen, können hier anders sprechen. Sie tun es auch! Mir als Deutschem, uns als Deutschen, steht das nicht zu; und zwar kein kleines Bißchen. Nötig vielmehr, Adornos Satz im Sinn festzuhalten: »daß ich weder glaube, dies begründen zu müssen, noch zu sollen«.
Das politisch-philosophische Programm daraus trägt den Namen Erziehung zur Entbarbarisierung. In diesem Titel war und ist die Übereinstimmung meines diesbezüglichen Selbst mit Adorno beinahe vollkommen. »Verminderung der Gewalt in der Welt«, was sich als Transparent über meine Arbeit spannen ließe, arbeitet ja an nichts anderem als Versuchen solcher Entbarbarisierung.
Dies Programm dachte Adorno außerhalb jeder philosophischen Systematik; ohne Bezug auf ein Denksystem:
Der Totalitätsanspruch der traditionellen Philosophie, kulminierend in der These von der Vernünftigkeit des Wirklichen, ist nicht zu trennen von Apologetik. Die aber ist absurd geworden. Philosophie, die sich noch als total, als System aufwürfe, würde zum Wahnsystem.
Wen gab es noch außer Adorno, der sich traute, die offiziell geltenden Denk- und Redesysteme als wahnsinnig zu bezeichnen; gebaut um den Fünf-Worte-Satz: »Das Ganze ist das Unwahre«.
Die Kultur der europäischen Aufklärung hatte sich als unfähig erwiesen, den Kulturbruch »Auschwitz« zu vermeiden. Ihr Ganzheitsanspruch – rational und im Prinzip humanitär zu sein, lag in Trümmern. Das »Ganze« dieser Kultur, ihr »menschenrechtlich« begründeter Humanitätsanspruch, hatte sich selbst massakriert in ihren Tötungsorgien (wobei Adorno die Gesamtheit der Kolonialverbrechen noch nicht einmal voll eingearbeitet hatte).
Ein Schritt in »praktische Tätigkeit« aus alldem ergab sich nach dem 2. Juni 1967; nach der Ermordung Benno Ohnesorgs. Die Tatsache, daß ein Berliner Polizist einen Studenten, der nicht einmal zu den sog. »Radikalinskis« gehörte, erschießen konnte, wofür diesem Studenten anschließend die »Schuld« selber zugeschoben wurde, löste in mir einen Aktivismus-Schub aus. Ich sah mich um unter Gruppen, die einem sich in solchen Vorgängen ankündigenden neuen Faschismus etwas entgegenzusetzen hätten und fand den SDS; Sozialistischer Deutscher Studentenbund; in dessen Namen mich zwar zwei Wörter störten: deutsch und Bund; aber was die in ihren Aushängen sagten, konnte ich unterschreiben.
Der SDS und Adorno. Die süddeutschen SDS-Gruppen, Heidelberg, Tübingen, Freiburg hingen enger mit der Frankfurter Gruppe zusammen als mit der Berliner Dutschke-zentrierten. Der Frankfurter SDS, Krahl-zentriert, war, grob gesprochen: Adorno. Fast alle, die ich von dort kennenlernte, kamen aus Adorno-Seminaren. Anders als der Berliner SDS war der Frankfurter SDS psychoanalyse-orientiert. Reimut Reiche, bekannter Psychoanalytiker heute, sprach auf den Delegierten-Konferenzen. KD Wolff, mein späterer Verleger, Hans Jürgen Krahl, waren aus Adorno, sowohl in Marx wie in Freud verankert; und alle Gegner des sog. »realexistierenden Sozialismus« der Sowjetunion und der DDR; Anti-Stalinismus und Ablehnung der Ostblock-Marionetten à la Ulbricht; alles »Vertreter« der geschichtsentstellenden ERWACHSENEN-Welt und ihrer Berufs-Chargen. Adorno, komplettiert mit den Rebellen des SDS, blieb irgendwie »jugendlich«, jedenfalls in meiner phantastischen Auffassung.
Über Walter Benjamin hat Adorno geschrieben:
Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus dem Geheimnis. Seine Macht aber empfing es durch Evidenz. (Über WB, 34)
Wie so oft beschreiben solche Zaubersätze ebenso den, der sie formuliert, wie den, dem sie gewidmet sind. Geheimnis und Evidenz, scheinbare Gegensätze; gerade solche wollte Adorno in seinen Sätzen gern gleichzeitig zur Geltung bringen. Kleine Kunststücke, die zeigen, wie Adorno sein Schreiben selbst verstand, als Kunstproduktion. »Evidenz aus dem Geheimnis«.
Etwas war geschehen nach Juni 1967, in aller Evidenz: »wir« waren öffentlich geworden; sichtbar auf den Straßen. Das »Exil« war kein heimliches mehr, kein in Kneipen weggesoffenes. Exile on Mainstreet – Exil auf der Hauptstraße – hieß bald darauf eine Platte der Rolling Stones. Wir hatten das Privileg, unsere Art »Exil« auf die Straßen tragen zu können. Geflüchtet – wie es der ganzen 68er-Kultur bewußt war – ins Auge des Öffentlichen: parasitäre Öffentlichkeit, in Dutschkes Formel.
Im Background die Kernfrage: mit gewitzten Aktionen im politischen Raum, gewaltlos, oder mit dem Anspruch des Zugriffs auf die Machtzentren der Herrschenden; was nur geht mit Gewalt. Jahrelanger Streitpunkt.
Adornos Rede dazu war klar gewesen: gegen jede Anwendung von Gewalt die schwersten Vorbehalte. Spiegel-Interview 1969:
Ich müßte mein ganzes Leben verleugnen – die Erfahrungen mit Hitler und was ich im Stalinismus beobachtet habe, – wenn ich dem ewigen Zirkel der Anwendung von Gewalt gegen Gewalt mich nicht verweigern würde. Ich kann mir eine sinnvolle verändernde Praxis nur als gewaltlose Praxis vorstellen.
Spiegel: Auch unter einer faschistischen Diktatur?
Adorno: Sicher wird es Situationen geben, in denen das anders aussieht. Auf einen wirklichen Faschismus kann man nur mit Gewalt reagieren. Da bin ich alles andere als starr. Wer jedoch nach Ermordung ungezählter Millionen von Menschen in den totalitären Staaten heute noch Gewalt predigt, dem versage ich die Gefolgschaft. Das ist die entscheidende Schwelle.
Spiegel: Ist diese Schwelle überschritten worden, als Studenten versuchten, durch Sitzstreiks die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern?
Adorno: Diesen Sitzstreik halte ich für legitim.
Ebenso selbstverständlich für Adorno war es, im Jahr zuvor die 1968er-Aktionen gegen die Notstandsgesetze unterstützt zu haben; »Ermächtigungsgesetze«, die von meiner/unserer Generation erneut als Verstärkung des Gefühls »Fremde im eigenen Land« verstanden wurden; nämlich: »Müssen wir hier abhauen, demnächst«. Droht ein neuer Zwang zum Exil – keine rhetorische Frage.
In meinen Worten lautete der Satz Adornos: Der/die/das Deutsche hat die Gewalt zu verlernen; das ist die primäre historische Aufgabe unserer Generation. Was für meine Frau immer selbstverständlich war, und mir in den Phasen der beginnenden RAF-Diskussion sehr geholfen hat.
Die Frauen. In Wolfram Schüttes unverzichtbarer Textsammlung »Adorno in Frankfurt« (suhrkamp 2003) finde ich die Notiz, daß der Text der »Dialektik der Aufklärung« nicht einfach ein geschriebener sei, sondern ein gesprochener; Aufzeichnung von Gesprächen zwischen Adorno und Horkheimer; mitgeschrieben zu einem großen Anteil von Gretel Karplus, Adornos Frau; in der Erstausgabe von 1944 ist das nicht vermerkt; erst in der Neuausgabe von 1969 ist ihre Beteiligung angedeutet. Betont wird von vielen, daß Gretel Adorno die tatsächliche Organisatorin des Alltagsbetriebs des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt war; bis hin zur Betreuerin von StudentInnen in psychischen Notlagen. Der Anteil beteiligter Frauen an den weltumwälzenden Arbeiten der großen Männer bleibt – wie bekannt – eher unterschlagen; und wenn gewürdigt, dann etwas halbherzig, als eine Art Sozialarbeit.
Diesem Versäumnis habe ich versucht, entgegenzuarbeiten; nicht immer zur vollen Zufriedenheit meiner Frau; die aber weiß, dass ich weiß: ohne ihr Zutun hätte ich entscheidende Begriffe wie »Entdifferenzierung«, »Entlebendigung«, »Fragmentkörper« und andere nicht entwickeln können; nicht ohne ihre Kenntnisse aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie ihrer psychoanalytischen Arbeit, und nicht ohne unser gemeinsames Leben zu Hause.
»Entbarbarisierung« wird es nicht geben, kann es nicht geben, ohne die Gleichstellung von Frauen überall in der Welt auf allen denkbaren Ebenen. Ohne Herstellung dieser Gleichheit ist jede einzelne Beziehung in Gefahr, in die Fallen vorschriftsmäßiger »Geschlechterkriege« sich zu verstricken.
»Männer werden zivilisiert durch Frauen; egal, wo auf der Welt«, sagt meine Frau. Das finden wir so klar ausgedrückt nur in weiblicher Entbarbarisierungs-Praxis.
Zurück zur Musik: Black Music war ein gemeinsamer Nenner geworden jener AltersgenossInnen, die die zurückgekehrten Emigranten verehrten; all jener, die nicht wussten, wie in der Welt sie sich sehen lassen konnten als Kinder der Judenmörder; als Menschen, die »das Denken der Emigration« in sich aufsogen. Black Music als Kunstform jener Afroamerikaner, die sich aus der Sklavenkultur befreiten; die sich als fighters for freedom verstanden wie Charlie Mingus, oder später das Art Ensemble of Chicago, das Sun Ra Archestra oder Nina Simone, Lena Horne, Harry Belafonte (an der Seite von Martin Luther King), und die vielen weiteren einer ununterbrochenen Reihe widerständiger Black people bis heute.
Black Lives Matter fällt zwar in unseren Tagen auf einen speziell kulturell vorgepflügten Boden; ist aber ein gewichtiger Tatbestand seit spätestens Mitte der 50er Jahre. Für uns waren es, vor allen anderen, Black Lives, die zählten. Black Lives, in denen die ermordeten jüdischen vorhanden waren; in einem ganz »natürlichen« Intercontinental-Zeitensprung. Billie Holidays Strange Fruit schloß die in den KZ's zu Asche verbrannten Juden ein. Wenn Charlie Mingus davon sprach, dass die Blacks in the American South eingesperrt und behandelt würden wie in Concentration Camps, war das für uns kein unerlaubter, sondern ein gebotener Sprung in historische Paralellisierungen, die sich um abweichende Einzelheiten nicht kümmerten.
The Sound of Music. Amorbach, ein kleines Städtchen im Fränkischen, knapp 80 km von Frankfurt entfernt, pflegte das Sommerdomizil der Wiesengrund-Familie zu sein. Adorno hat ihm 1966 einen Zeitungstext in der Süddeutschen gewidmet. Darin die Passage:
Neben dem Pianino mit dem Mozart-Medaillon hing im Gastzimmer der Post eine Gitarre. Ihr fehlten ein oder zwei Saiten, die restlichen waren sehr verstimmt. Ich konnte nicht Gitarre spielen, aber riß mit einem Griff alle Saiten zugleich an und ließ sie vibrieren, berauscht von der dunklen Dissonanz, wohl der ersten so vieltönigen, an die ich geriet, Jahre, ehe ich eine Note von Schönberg kannte. Ich fühlte den Wunsch: so müßte man komponieren, wie diese Gitarre klingt. (25)
Gegen Ende der 60er, noch zu Adornos Lebzeiten, fing es an, Gitarren zu geben, die so klingen konnten, und zwar unter den Händen versierter Musiker, wie etwa Sonny Sharrock, im Free Jazz.
Es ist materiell diese Negation einer funktionsfähigen Gitarre, die den Wunschklang nicht verlogener Musik in den Raum der Alten Post von Amorbach zauberte. Wie sich der Begriff der negativen Dialektik aus den (lückenhaften) Seitenfolgen adorno'schen Schreibens hervorzaubert. Alle (mögliche) Partial-Wahrheit geht nur ex negativo hervor aus der Vermeidung jedes »positiv« sich begründenden Rede-Gestus, der zwangsweise zur Verstärkung herbeigelogener Totalitäten führt. Schreib-Musik: Auch die Schreibmaschine muss kunstvoll verstimmt werden, bis sie klingt wie die beschädigte Gitarre in der Alten Post von Amorbach.
Die zentrale Bedeutung des Kunstwerks für Adorno, die ich hier (aus Zeitgründen) nur streife, ist eine weitere Querverstrebung, die meine Arbweiten mit denen Adornos verbindet. Das »künstlerisch Wahre« gibt es für Adorno – auf welch rätselhafte Art und Weise immer es entsteht; auf jeden Fall aber in Überschreitungen, Transition. Wir finden bei ihm aber auch die gegensätzliche Wendung: »Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein«. Was daraus zu lernen ist? Niemals den linearen Verläufen glauben. Einfache Sätze, kunstlose Sätze, sind eben deshalb einfach und kunstlos, weil sie wahrscheinlich lügen. Sie führen in die Falle, in den Abgrund zutreffender Aussagen. »Aussage« – Adorno hasste dieses Wort. Sätze sollen so gehen: Die Lüge Kunst offenbart Wahrheit.
Adornos »Verdikt« über der Jazzmusik, widerwillig von mir wahrgenommen, war ein schwerer Hammer. Die »sture Einheit des Grundrhythmus« nennt Adorno als ersten zentralen Mangel »des Jazz«, und weiter brauchen wir hier nicht zu lesen, um zu wissen, daß mit solcher Beschreibung höchstens der »Jazz« bis Ende der 30er Jahre abgedeckt ist.
Was Adorno nicht hörte: daß es sich bei den wilderen Blues-Gitarristen und den wilderen Formen des Bebop, die sich in den 40ern in New York und Chicago entwickelten, um eine komplett andere Art von Musik handelte: in Notenschrift nicht notierbare Formen der Tongebung. Bis zu seinem Todesjahr 1969 hatten sich daraus sehr verschiedene Formen des Free Jazz entwickelt; »gleich« waren sie sich nur darin, eben nicht »die sture Gleichheit eines Grundrhythmus« zu zelebrieren. Albert Ayler war da, Ornette Coleman, Cecil Taylor, das Art Ensemble of Chicago; jede Gruppe unvergleichlich anders. Schüler Adornos aus seiner persönlichen Nähe haben mir erzählt, wie sie versucht haben, ihm John Coltranes Eskapaden vorzuspielen. Er wollte das, sagen sie, nicht hören.
Mit Adorno also verbinden mich Welten und von Adorno trennen mich Welten.
Barbarei? Der »Widerspruch« könnte größer nicht sein. Genau die Musik(en), die für uns von America Neo-Kolonisierte den Ausgang aus der Nazibarbarei bedeutet hatten, blieben für Adorno die Verkörperung betrügerischer Produktionen der Kulturindustrie, die dabei waren, die demokratische Post-Nazi-Welt erneut in eben überwundene Barbareien zurückfallen zu lassen.
Die Barbarei kann erkannt und behandelt werden. D'accord. Nicht ganz einfach übereinstimmend zu befolgen, wenn auch so relativ schuldlose Artisten wie die Beatles, deren Verve und Charme sich ja kaum ein um 1942 geborener Mensch entziehen konnte, von Adorno explizit unter die »Barbaren« gereiht wurden. Mit der Einschränkung: »Sie sind keine Mörder, aber Barbaren doch«. Das fanden »wir« nicht.
Und die US-Schwarzen? Wer oder was waren diese USA-»Schwarzen« denn? Exilierte doch durch und durch, über viele Generationen; unfreiwillig Exilierte, Verschleppte, Amerikaner wider Willen. Von weißen Sklavenhändlern eingeschleppte sog. »Barbaren«, die unter dem Label »Afroamerikaner« jetzt ihre Anerkennung als gleichgeltende Menschenwesen verlangten. Aber: ABC ist nicht gleich ABC; ABC-Boogie, 1957, besingt eine schwarze Lehrerin – »Up from Basin Street«; eine tänzerische Frau, die ihr Erziehungsziel in den Zeilen ausdrückt:
No education can be complete
Without a Boogie-Woogie-Woogie-Beat
– geschrieben von einem schwarzen Pianisten und einem Texter aus jüdischer Umgebung.
Den Schritt, diese Blacks als prinzipiell Gleiche, wenn auch Verschiedene, anzuerkennen, machte die Generation der aus Europa in die USA emigrierten Juden vielfach nicht mit. »Exile« sind nicht gleich »Exilen«. Obgleich sehr Vieles in ihren Schicksalen ineinander geht, wenn auch nicht »bruchlos«.
Eine Szene dazu aus Art Spiegelman's »Mauschwitz«-Comic: Spiegelman und seine Freundin Francis nehmen auf einem US-Highway einen schwarzen Tramper mit. Spiegelmans Vater, Auschwitz-Überlebender, ist mit im Auto. Nachdem der Tramper ausgestiegen ist, explodiert der Vater: »Seid ihr verrückt! Das war ein Schwartzer! Hat er euch nichts gestohlen!?«, etc. So der alte Jude aus Polen in America. Exil ist nicht gleich Exil. Und Mensch ist nicht gleich Mensch. Sie merken schon: »Anti-Barbar« ist nicht gleich »Anti-Barbar«.
Es gibt dazu das kluge Buch Der Barbar von Manfred Schneider; Titel: Untertitel: Endzeitstimmung und Kulturrecycling, von 1997. Unsere Kultur, sagt Manfred Schneider, braucht die Figur des Barbaren, um ihre Krisen- und Umbruchssituationen zu bewältigen.
Schneider sieht Cyclen in der Geschichte; aber nicht einfache »Wiederholungen«. Eine bestimmte Kultur geht, wenn sie untergeht, in der Regel militärisch zu Grunde; Rom wird überrollt von Germanen-Horden, von – aus römischer Sicht – »Barbaren«. Diese »Barbaren« zerstören aber nicht nur, sie beerben auch. Teile der römischen Kultur gehen, übertragen ins Christentum, in veränderter Form weiter. Die »Barbaren«, so Schneider, arbeiten daran, die Kultur, die sie besiegt und teils »ausgelöscht« haben, unter veränderten Bedingungen neu zu beleben, zu recyceln. So geschah es auch der Kultur der Griechen, die von Rom zerstört, aber in Rom recycelt wurde. Und viele weitere Beispiele.
Ich nehme an, es dürfte Ihnen nicht schwerfallen, viele Züge der ab dem 16. Jahrhundert entstehenden verschiedenen Americas auch als Recycling europäischer bzw. afrikanischer Kulturelemente zu begreifen.
Heißt: Ex-»Barbaren« helfen dabei, die neue Zivilisation, an der sie mitbauen, zu »entbarbarisieren«. Was auch der unentwegte Adornoschüler und Aktivist in Permanenz, Bazon Brock, zum Ausdruck bringt, wenn er den Buchtitel Der Barbar als Kulturheld über die Sammlung seiner Essays spannt.
Daß musiktheoretische Ansprüche Adornos an zeitgemäße, materialgerechte Musik in den Formen von Black Music (also in der Spielweise von »Barbaren«) erfüllt wurden und werden, ist natürlich schwer zu schlucken; selbst für einen Toten schwer. Aber auch Tote lernen: Dialektik ist kein Denk-Highway mit absehbarem Spurverlauf. Es gibt Volten und Wenden; Sun Ra steht Alban Berg oder Anton Webern näher als Stockhausen oder Mauricio Kagel je. Die Musik der Gruppe, in der ich selber spiele, zu der auch der Violinist gehört, den sie am Anfang hörten und gleich noch einmal hören werden, wurde von einem amerikanischen Zuhörer identifiziert als »post-schönbergsche Improvisation«. »Erstaunlich« sagte er, daß es so etwas gibt in Deutschland«; post-Schönbergsche Improvisation, gespeist aus Free-Jazz-Elementen. Wir hören Alban Bergs Lulu-Oper neben den Heliocentric Worlds von Sun Ra; verwandte wunderbare Musiken.
Mit Überraschungen auf dem technologischen Level. Andrian Kreye, Jazzspezialist der Süddeutschen, analysiert:
Inzwischen bekommt man mit jedem Smartphone Programme mitgeliefert, die Audio, Video und Bilder produzieren können, für die man früher Tonstudios, Produktionsfirmen und Grafikbüros brauchte. Zumindest in der Kultur ist die Eroberung der Produktionsmittel vollzogen.
Eine zentrale Marx'sche Utopie sei damit erfüllt. Mit der Verbreitung erschwinglicher Laptops und billiger Produktions-Software, so Kreye, können Marginalisierte in aller Welt Musik auf demselben Niveau produzieren wie früher nur die großen Studios der Musikkonzerne. Musiken, deren diverse Spielarten Adornos Forderung nach »Entbarbarisierung« adäquater erfüllen als die sog. »ernste« Musik.
Verkehrte Welt?
Nein, schräge Dialektik der Zeitläufte.
Im Buch, das ich gerade fertigstelle, traue ich mich, zu schreiben, die Behauptung, »unsere« Kultur wurzele in der griechischen Antike, habe ihre Geltung verloren mit dem Ende des 2. Weltkriegs. Die »Kultur« danach, die Kultur meiner Generation, wurzelt nicht mehr in Homer, sie wurzelt im Blues.
Womit es zu weiteren Re-Visionen drängt. Was hatte es denn auf sich mit jener Formel, die auf dem Schutzumschlag der Minima Moralia prangte; welche behauptet, es gäbe kein richtiges Leben im falschen. Wäre das so, könnten wir uns doch gleich alle Mühen sparen.
Der Satz muß krummer gelesen werden, nicht geradlinig; was zuerst ergibt: dieser Satz will richtig sein. Das führt zur Frage, warum der Mensch TWA, der dies feststellt, sich derart bemüht hat in seinem Leben, lauter richtige, zutreffende und auch noch glänzende Sätze zu schreiben. Damit sie im »Falschen«, wo es doch gar kein »Richtiges« gibt, gleich ihren Biß verlören? Wozu dann seine rasende Mühe im Kampf um den richtigen Satz, den er ja kämpft; und er, TWA, »Teddie« für die Nahestehenden, führe es doch vor, jeden Tag. Bei ihm sei zu lernen, Richtiges richtig zu studieren, sich als Person zu entbarbarisieren und mitzubauen an der Verhaltensvielfalt richtiger Mensch.
Nach den Regularien »negativer Dialektik« kann solches aber nicht gelehrt werden mit einem Kodex richtiger Vorschriften. Dann wäre man bei Geboten, die in ihr Gegenteil führen, nämlich ihre Verletzung; welche in der Regel barbarisch ausfällt. »Lehren« sind vielmehr aus Paradoxien zu begreifen; bzw. aus der Umkehrung ihrer Negativitäten.
Das drängt doch hin zum Schluß, etwas schlingernd, daß »richtiges« Leben selbstverständlich möglich ist; aber nicht auftauchen darf in der Panzerung eines Regel-Kanons. Dann säße man fest im Positivismus; der Bearbeitungsform des Realen, in der das Denken »sich seiner selbst begibt«; nämlich mutiert zur verhärtenden Untermauerung dessen, was ist. Wohingegen Entbarbarisierung Sätze produzieren solle aus Geheimnis und Evidenz.
Die Vorstellung eines Lehrers, dem die »Schüler« aufs Wort folgen würden, war Adorno unangenehm. Der »gute« Lehrer solle sich überflüssig machen; so Adornos Freund Hellmuth Becker im letzten Radiogespräch der beiden, 13. August 1969. Wie »folgt« man also Lehrern »richtig«? Adorno gab einen Hinweis. In Victor Hugos Shakespearebuch, sagt er, gäbe es die Bemerkung, »man könne es den alten Meistern nur dadurch gleichtun, daß man ihnen nicht gleiche«. Ein Satz, der durch die Erfahrung der letzten hundert Jahre »in seiner ganzen Wahrheit« bestätigt sei. (Vorschlag zur Ungüte, 1959, 53)
Heißt, die Künstler der Moderne, sofern ihre Arbeit von Bedeutung ist, haben weder kopiert, noch nachgeahmt, noch sind sie irgendjemandem gefolgt, sondern haben die Wirklichkeitsmaterie aus eigenem gestaltet. Samuel Beckett verehrt James Joyce und Shakespeare; sein Schreiben gleicht keinem von beiden. Und Adorno, der Beckett verehrt, schreibt keine Spur wie Beckett. Wer Adorno wiederum kopieren wollte, kann sich nur blamieren (die Beispiele gibt’s). Im Sinne Adornos schreiben kann man allerdings von den verschieden(st)en Winkeln her; Kritiken an seinem Tonfall eingeschlossen; wer wollte denn bestreiten, daß Adornos Sprachgestus ein dominanter war. Nicht einmal er selber.
Dankenswert frei finde ich hier die Arbeit der jeweiligen Jury's des Adorno-Preises. Sie haben sich niemals primär darum gekümmert, wie nachweislich eng die Beziehung der Preisträger zum Namensgeber des Preises war. Weder Jacques Derrida noch Jean-Luc Godard z.B. wird man eine spezifische Nähe zu Adornos Denk- und Schreibverfahren attestieren; eine starke Verbundenheit mit den Kernen seines Denkens allerdings sehr. Sie alle teilen Adornos und Horkheimers Verzweiflung, daß die Kultur der »Aufklärung« bei der Shoah landen konnte – als Ort ihrer Erfüllung.
Die Differenz heutigen Denkens, das sich Adorno nahe fühlt, liegt in einer anderen Auffassung des – grob gesagt – Medialen. Aus dem Spektrum der medial erzeugten Wirklichkeiten, Malerei, Film, Comics, Musiken, elektronische Verwandler spielt allein die Musik bei Adorno eine Rolle. Sein Schreiben steuert den Zustand an, selber zeitgenössisch komponierte Musik zu sein. »Harmonisierende« Strukturen erzeugen zu wollen, kann immer nur auf Unterstützung des schlechten Bestehenden hinauslaufen. Den »Verrat« an Schönberg gäbe es damit nicht nur im schlechten Komponieren. Er fände statt auch in jedem »falsch« harmonisierenden Satz aus Buchstaben. Adorno schreibt insofern »medial«, als er atonal zu schreiben versucht. Die Grammatik seiner geschriebenen Wörtersätze folgt eher Schönberg'schen Kompositionsprinzipien als den geläufigen Sprachregelungen philosophischen deutschen Schreibens. Die produktiven Brüche des Satzflusses stammen eher aus Alban Berg als aus Strawinsky. Es können aber auch Robert Schumanns Eichendorff-Lieder sein; einer der schönsten Texte aus Adornos »Noten zur Literatur« gilt ihnen.
»Richtiges Schreiben« im falschen Leben?
Das bringt mich auf das Etikett »Sekundärtugenden«; die Älteren unter ihnen werden sich erinnern. Deren Verwerfung war angesagt im Zeitabschnitt direkt nach Adornos Tod. In großen Teilen »der Linken« setzte sich in den 70ern die Meinung durch – (Meinung: Wort das Adorno hasste) – die Meinung also, es gäbe wichtigeres im Leben, als »richtiges Verhalten«; nämlich die richtige politische Linie; das historisch angesagte Programm, auf die käme es an in der Weltrevolution; und die Arbeit an dieser sei gefordert vom praktischen Revolutionär.
Nicht gefordert: sog. menschliche Qualitäten; Verläßlichkeit, Aufrichtigkeit in Beziehungen; das Genießen der Anwesenheit der geliebten Menschen (eine der schönsten Formen von Sexualität), geteilte Aufgaben, geteiltes Geld, geteilter Staubsauger und ein Festhalten an einmal verläßlich gefundenen Einsichten, das – auch und besonders bei Adorno – mit dem Wort »die Treue halten« bezeichnet wird. Also nicht alle drei Jahre die Frau/den Mann/die Freunde wechseln. Und nicht, wenn man zwanzig Jahre lang pazifistisch sich die Zunge wund geredet hat, mit einem Mal, nachdem man nächtelang mit sich »gerungen« hat, Bomben auf Belgrad werfen. Die Linksmenschheit verzog sich lieber in Machtfragen und »konkretes politisches Handeln«, ernsthaftes! Bis hin zum Mord.
Häufig ist vom »Verrat« bei Adorno die Rede, vor dem man sich hüten möge, indem man die mit Mühe errungenen Lebenspositionen opportunistisch fallen läßt: Gedanken, Menschen, politische Milieus, Freundschaften, die sich bewährt haben. Es gelte, sie auszuhalten und beizubehalten.
Die 70er, dies »Mao-Jahrzehnt« war praktizierter Anti-Adorno, so wie die 60er – in Teilen – praktizierter Adorno waren. Ihn hat sein fester Anti-Gewalt-Gestus ebenso wenig verlassen wie die Wahrnehmung, daß »auch Theorie Praxis sei«. Daß der »Theorie-Mensch« also nicht unbedingt wissen müsse, was denn praktisch-politisch »als nächstes« zu tun sei. Auf die Frage des SPIEGEL 1969, wie man denn aktuell handeln solle in der Universität, antwortet Adorno:
Da bin ich überfragt. Auf die Frage »Was soll man tun« kann ich wirklich meist nur antworten »Ich weiß es nicht«. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vorgeworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man's besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.
Aus der Kritik des Bestehenden folgt eben nicht, so Adorno, »daß ich mir anmaßen würde zu sagen, wie man nun handelt.«
Ich glaube – nicht erst seit ein paar Tagen – daß die »Sekundärtugenden« etwas Primäres sind; soweit man das belastete Wort »Tugenden« überhaupt verwenden will. Nur unterm Schirm dieses »Sekundären« läßt sich, in aller Ruhe, feststellen, es gibt ein richtiges Leben im richtigen. Zu entdecken nur aus Positionen aufgegebener Dominanz. Und wie schafft die einzelne Person das?
Sie schafft es nicht allein.
Das »Ich« allein kann es nicht schaffen. Bleibend verbindet mich mit Adornos Kernen die lebenslange Frage nach der Konstruktion der Person(en) in unseren Gesellschaften; nach dem Bau »des Ich«, die Freud zentral in unsere Kultur gestellt hat; entschiedener und mutiger als alle anderen. Daß die Vorgänge unserer Psyche, auch unseres Denkens zu einem großen Teil unbewusst verlaufen, hat Adorno, sozusagen unumstößlich, aus Freud entnommen. Daß diese Psyche sich nur in Beziehungen mit anderen weiter entwickelt, hat er weniger deutlich betont; Sprachlich bleibt es bei Gegenüberstellungen:
Ich/Nicht-Ich, bewusst/unbewusst, Frau/Mann, Erwachsener/Kind, Barbar/Nicht-Barbar – Sprechen im Feld binärer Gegensätze, die unsere Kultur seit ca. 12.000 Jahren strukturieren; Binaritäten, aufgespannt zwischen Gott und Teufel, zwei Polen, die es im Realen nicht gibt; Spielkonstruktionen böser Machtspieler. Das wäre eine der letzten wünschenswerten Erkenntnisse dialektischen Denkens, daß nichts so sehr die friedliche Ausgeglichenheit menschlichen Lebens bedroht hat, als ausgedachte Konstruktionen von Gespenstern, die nicht existieren, Gott nicht, Teufel nicht, Heimat nicht, Nation nicht. Die alle so wenig real sind wie die Konstruktionen »zerstörerischer Weiblichkeit« – von denen auch das Buch Dialektik der Aufklärung nicht gänzlich frei ist.
Ich sehe das dialektische Denken selber an seine Grenzen kommen durch massive Verschiebungen im Wirklichkeitsfeld der menschlichen Körper. Wenn heute nicht mehr nur zwei Geschlechts-Identitäten für den beantragten Reisepass zur Auswahl stehen; und mehr als hundert davon, wenn das »Geschlecht« für eine Netzplattform »definiert« werden soll, dann ist das weder eine primär sexuelle Möglichkeit der Selbstdefinition; es ist auch nicht einfach die Auflösung der abendländischen Familienstrukturen, die es natürlich auch ist; es bedeutet vor allem die prinzipielle Möglichkeit der Auflösung der binären Denkstrukturen, die unser gesamtes Denken und Fühlen einengen um nicht zu sagen, einsperren. Ich spreche heute von einem bei uns vorliegenden »Segment-Ich«; (nachzulesen in Pocahontas Bd.3;).
Auflösung des binären Denkens: Wer fortfährt, die Welt nach richtig/falsch zu unterscheiden, d. h. die Welt zu vergewaltigen; wer sie einteilt nach weiß/farbig, nach phallisch/vaginal oder wie immer sie zweiteilt, frevelt (um ein weiteres Lieblingswort Adornos nochmal zu verwenden) an der veränderten Materialität des Weltzustands und produziert damit: fortdauernde Unterdrückung und deren Ideologien.
Phallus klebt eben nicht mehr Allus; das begannen Ernst Jandl und Friederike Mayröcker in praktiziertem Paar-Denken zu ahnen.
Das ergibt eine komplette Blickveränderung auf die Tatsache »Exile«. Zuerst wurde das klar in der Entkriminalisierung der Homosexualitäten. Die Parole »Raus aus den Toiletten«, und dann weiter: »Raus auf die Main Street«, sagte ja, daß die/der Homosexuelle bis dahin zu einem Leben im Exil verurteilt waren. Wie alle anderen mit sog. »abweichenden« Sexualitäten auch. Dies ließ schließlich auch formulierbar werden, daß ca. die Hälfte der Menschheit, nämlich die Frauen, in gesellschaftlich angeordnetem Exil lebte und zum großen Teil noch lebt, nämlich überall da, wo ihnen gleiche Rechte verwehrt werden; überall da, wo gesetzliche Männerdominanzen ihnen die Lebensweise vorschreiben, ihre Sexualität und die Geburtsverfahren kontrollieren und sie zusätzlich in ein weiteres Exil verbannen: in das Exil weiblicher Körper auf den Reklametafeln der Welt.
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerungen lebten und leben – in ihren eigenen Ländern, die nicht ihre eigenen sind – in verordneten Exilen. Wir sehen, wie gerade jetzt wieder, zum 20. Jahrestag von 9/11, ein neues/altes Binnen-Exil eingerichtet wird in God's Own Country Afghanistan. Und keineswegs immer führen solche Exile zum »Denken«; zu gewalttätig, zu lebensbedrohend ist ihr ermächtigtes Wächterpersonal; bewaffnete, gesetzlich gestützte Mann-Gewalt. Barbarisch.
Für mich das Erfreulichste an den Weltauffassungen von Fridays for Future und anderen Organisationen der »Jungen« ist – neben der Wichtigkeit ihrer politischen Forderungen – der Anlauf auf die Auflösung des binären Denkens. Wenn allenthalben die weltumfassenden Gemeinsamkeiten beschworen werden, derer es notwendig bedarf, wenn tatsächliche Erfolge in der Arbeit z.B. gegen den Klimawandel erzielt werden sollen, dann folgt daraus die Notwendigkeit multiversalen Denkens und einer »Politik ohne Feind«; Formel, die mir in einer Diskussion mit Heiner Müller entschlüpfte. »Is ja gut, wenn das Jemand schafft«, sagte Heiner Müller dazu und schob lächelnd nach, er seinerseits könne sich Politik ohne Feind nicht vorstellen.
Viele der Jüngeren heute scheinen das zu können oder mindestens zu wollen; jedenfalls wünsche ich mir das; auch in Adornos Sinne: wenn die radikale Veränderung des schlechten Bestehenden gewaltlos geschehen soll, also in bisher unausdenkbaren politischen Gemeinsamkeiten der bestehenden Weltblöcke, dann ist der Verzicht auf die Vorstellung »Feind« eine notwendige Voraussetzung. »Denken« wird erst frei, wenn es ohne die Vernichtungsforderung anderer auskommt. Erster Schritt zu dieser »Entbarbarisierung« kann immer nur die Umwandlung des Barbarischen in einem selber sein.
Dann ist da noch die Sache mit der Genialität; wer ist das »Genie« und wer nicht: auch so etwas Ausgedachtes, das es nicht gibt; so wenig wie Gott und Teufel und die Bösartigkeit der Weiblichkeit. Die Problematik des »Genies« – das konnte ich in meinen Arbeiten zeigen – besteht darin, seine Position des Geist- oder Kunst-Königs aufzufassen als allgemeine »Führerposition«. »Das Genie« – das viele Begabte sein wollen; das es aber nicht gibt – tendiert dazu, wo es persönlich unter Druck gerät oder in sog. »Schaffenskrisen«, sich mit dem politischen Führer zu verwechseln. Ob Gottfried Benn, Ezra Pound, Louis-Ferdinand Céline oder der unheilige St. Martin – sie alle glauben in bestimmten Momenten ihres Lebens, das Schicksal ihrer Länder, nein: der Welt, hänge davon ab, daß sie mit »dem Führer« in Kontakt treten; dieser würde schnell erkennen, was er an ihnen hat; nämlich geborene Retterfiguren, die wissen, wo's lang geht. Benn oder Heidegger glauben, sie könnten Hitler überhitlern; Pound Mussolini über-mussolinisieren; Céline macht es nicht unter Ludwig IV., des in seiner Gestalt Wiedergeborenen. Ein zentrales Wort in der Grabrede Horkheimers auf Adorno ist dies Wort: »Genie«.
Adorno war klug genug, diesen Sticker nicht vor sich her zu tragen, obwohl er mit seinen extraordinären Klugheiten keineswegs hinter dem Berg hielt. Er wusste aber: dies Etikett wäre (zu) positivistisch. Und wusste: »Genie« (das es nicht gibt) kann nur scheitern in seinem Führungsanspruch; die Götter (die es auch nicht gibt) lassen sich nicht verarschen von aufgeplusterten Stirnen.
Weiter hilft wieder nur ein Ortswechsel; ein Sprung in die schwarze Unterwelt, ins Leben von Jamaica etwa. Dort finden wir Harry Belafonte mit Blick auf die See – kein Genie, aber ein Weiser, der alles werden will, nur kein großer Mann – der uns deshalb zusingt:
All the great men upon this earth
Have confused me since my birth
Das wäre schon eher was zum Mitsingen, karibisch, mit Calypso-drive.
Einen schönen Tag wünsche ich noch,
und Many Thanx fürs Zuhören
- und jetzt den Musikern dort.
Klaus Theweleit, 11. Sept. 2021