Informationsmüdigkeit
Als die koreanische Ausgabe der "Müdigkeitsgesellschaft" erschien, hielt ich mich in Seoul auf. So konnte ich die Reaktion der Medien auf das Buch gut beobachten. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich das Buch zu einem viel diskutierten Bestseller. Die erste Auflage war schon am Tag ihres Erscheinens vergriffen. Offenbar fühlten sich die Koreaner von der Grundthese des Buches betroffen, dass die heutige Leistungsgesellschaft eine Gesellschaft freiwilliger Selbstausbeutung ist, dass die Freiheitsrufe wie "Yes we can" oder "Ja Du kannst" in Wirklichkeit etwas Teuflisches an sich haben, dass sie so viele selbstgenerierte Zwänge erzeugen, an denen das Leistungssubjekt zugrunde geht (Burnout).
Wer in Seoul in eine U-Bahn steigt, begreift schnell, dass er sich mitten in einer fortgeschrittenen Müdigkeitsgesellschaft befindet. Viele Koreaner, die einen Sitz ergattern, fallen sofort in einen kurzen Tiefschlaf. Die U-Bahn-Züge in Seoul gleichen Schlafwagen, in denen die Koreaner den fehlenden Schlaf nachzuholen scheinen. Überall und zu unterschiedlichsten Zeiten sieht man in Korea schlafende Menschen. Offenbar kämpfen die Koreaner gegen eine permanente Übermüdung an. Sehr viele Koreaner sind längst dem Burnout erlegen. Darüber hinaus sterben jährlich Hunderte Menschen aus Erschöpfung. So stürzte das Buch "Müdigkeitsgesellschaft" die Koreaner in einen kollektiven Selbstzweifel.
Die Jahresarbeitszeit der Koreaner beträgt 2193 Stunden, ca. 500 Stunden mehr als der OECD-Durchschnitt. Ein Modewort heißt "Saladent". Es ist zusammengesetzt aus salary (Gehalt) und student. Immer mehr Angestellte bilden sich weiter nach der getanen Arbeit, um sich auf dem sehr instabilen Arbeitsmarkt zu behaupten. Es gibt also praktisch keine Pause mehr. Gearbeitet und gelernt wird rund um die Uhr. Angst und Unsicherheit breiten sich aus. Südkorea weist inzwischen die weltweit höchste Suizidrate auf. Bereits die Schulkinder sind einem ernormen Leistungsdruck ausgesetzt. Deutschland blickt neidisch nach Asien, wenn koreanische Schüler in der PISA-Studie Spitzenwerte erringen. Aber es wird kaum zur Kenntnis genommen, dass in Korea viele Schüler Selbstmord begehen, weil sie den Leistungsdruck einfach nicht aushalten. Manche Schulkinder schlafen nicht mehr als 6 Stunden. Vor und nach der Schule nehmen sie Nachhilfekurse, um nicht aus dem Rennen um begehrte Studienplätze zu fallen. Zu Hause sind sie also praktisch nur während des Schlafes. Kürzlich hat ein Mordfall in Korea sehr viel Aufsehen erregt. Ein Schüler hat seine Mutter grausam erstochen, weil sie ihn wegen seiner schlechten Schulleistung geschlagen und permanent mit Vorwürfen überschüttet hat.
Ein bekannter Schlager des koreanischen Sängers Kang San E lautet: "Jemand wie Du kann es. Du kannst! Das bist Du!" "Du kannst!" ist in den koreanischen Schulen inzwischen zu der beliebtesten Maxime avanciert. Dieses koreanische "Yes we can" erzeugt ungeheure Leistungszwänge, unter denen viele Koreaner zusammenbrechen. Auch die Kirchen beteiligen sich an diesem Leistungswahn. Evangelische Prediger peitschen die Koreaner zur höchsten Leistung auf. Aus Neugier wohnte ich während meines Aufenthaltes in Seoul einer Messe bei. Ein Prediger befeuerte die Masse mit Zurufen wie "Keep on!" - wohlgemerkt auf Englisch. Den koreanischen Kirchen fehlt jede Besinnlichkeit. Sie sind dem kapitalistischen Leistungsprinzip perfekt angepasst. Das ist wahrscheinlich mit der Grund, dass die koreanischen Kirchen einen so großen Zulauf genießen.
Als ich Kind war - damals herrschte in Südkorea eine Diktatur -, waren mir solche Sprüche wie "Du kannst!" unbekannt. Geduld, Demut, Fleiß oder Solidarität waren Werte, die den Schülern eingetrichtert wurden. Jetzt hört man überall: Mehr Initiative! Mehr Motivation! An die Stelle des "Du sollst" ist längst "Du kannst" getreten. "Du kannst" vermittelt nur am Anfang ein Gefühl der Freiheit. Bald erzeugt es mehr Zwänge als "Du sollst". Ab einem bestimmten Punkt der Produktivität stößt "Du sollst" schnell an seine Grenze. Zur Steigerung der Produktivität wird das Sollen durch das Können ersetzt. Motivation, Initiative und Projekt sind für die Ausbeutung wirksamer als Peitsche und Befehle. Als Unternehmer seiner selbst ist das Leistungssubjekt insofern frei, als es keinem gebietenden Anderen unterworfen ist. Aber es ist nicht wirklich frei, denn es beutet nun sich selbst aus. Ausbeutender ist Ausgebeuteter. Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar. Die Selbstausbeutung ist viel effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht. Aber diese Freiheit bringt ungeheuere Zwänge mit sich, an denen das Leistungssubjekt regelrecht zerbricht.
Wer am Können scheitert, wird depressiv. Er schämt sich und isoliert sich. Er ist allein schuld für sein Versagen. Er problematisiert nur sich selbst und nicht die Gesellschaft. So bildet sich kein Wir, das sich gegen die Gesellschaft wenden könnte. In der von einer Fremdausbeutung beherrschten Gesellschaft verhält es sich ganz anders. Die Ausgebeuteten können sich solidarisieren und gemeinsam den Ausbeuter bekämpfen. Es entsteht ein Wir. Das neoliberalistische System stabilisiert sich, indem es die Menschen als Leistungssubjekte vereinzelt und isoliert.
Das Müdigkeitsproblem ist in Korea viel ernster als in Deutschland. Die Koreaner sind heute nicht nur mit Burnout oder Depression, sondern auch mit einer neuen psychischen Störung konfrontiert, die in Deutschland noch kaum bekannt ist. Sie heißt "Information Fatigue Syndrom" (IFS), auf Deutsch Informationsmüdigkeit. Es handelt sich um eine psychische Erkrankung, die durch ein Übermaß an Information verursacht wird. Die Betroffenen klagen über zunehmende Lähmung analytischer Fähigkeit, Aufmerksamkeitsstörung, allgemeine Unruhe, Angst, Nervosität, Selbstzweifel oder Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. 1996 prägte der britische Psychologe David Lewis diesen Begriff. Zunächst betraf die Erkrankung jene Menschen, die im Beruf über längere Zeit sehr viele Mengen an Informationen bearbeiten mussten. Heute sind von IFS alle Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten betroffen. Grund ist, dass die digitale Vernetzung die Informationsmengen ernorm steigen ließen. Das Smartphone verschärft diese Entwicklung.
Vom Smartphone wird in Korea viel intensiver Gebrauch gemacht als in Deutschland. Koreaner haben ein beinahe zwanghaftes, obsessives, ja obszönes Verhältnis zu ihrem Smartphone. Sie lassen es keinen Augenblick aus der Hand. In der U-Bahn geben sich alle, genauer gesagt, all diejenigen, die nicht schlafen, ihrem Smartphone hin. Niemand blickt anderswohin. Niemand blickt den anderen an. Mir war fast unheimlich zumute. Ich hatte sogar das Gefühl, dass der Blick selbst verloren geht. In dieser Zwanghaftigkeit und Besessenheit erschienen sie mir wie Zombies, die ihre Seele dem Kommunikationsgerät verkauft haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Smartphone bei Koreanern inzwischen ein neues Körperorgan, und zwar das wichtigste, geworden ist. Sie wirken mit ihm verwachsen. Der Touchscreen intensiviert das Gefühl organischer Verbundenheit zusätzlich. Es wird sich zeigen, dass diese Implantation eines digitalen Organs verheerende Auswirkungen auf den Menschen haben wird.
Soziale Medien wie Twitter oder Facebook versprechen Freiheit und grenzenlose Kommunikation, entwickeln aber zunehmend Zwänge. Das Smartphone verschärft diese Entwicklung. Nun ist man überall und vor allem zu jeder Zeit mit der Informationsflut konfrontiert. Man hat inzwischen das Gefühl, dass nicht wir das Gerät, sondern das Gerät uns benutzt und ausbeutet. Die Kommunikationsmedien wirken heute nicht selten wie Fesseln. Den Arbeitsknechten wurden früher Fußfesseln angelegt. Wenn ich den Koreanern mit ihren Smartphones zusehe, muss ich an Augenfesseln denken. Das Smartphone erweist sich spätestens in dem Moment als Fluch, in dem es die Unterscheidung zwischen Arbeit und Pause verschwinden lässt. Nun ist es möglich, pausenlos zu arbeiten, auch beim Gehen, beim Fahren, beim Essen und, wenn notwendig, auch im Bett. Die totale Mobilität gleicht immer mehr einer totalen Mobilmachung.
Eines der Symptome von IFS ist die Lähmung der analytischen Fähigkeit. Das analytische Vermögen macht aber das Denken aus. D.h. das Übermaß an Information lässt das Denken selbst erlahmen. Die analytische Fähigkeit besteht darin, vom Wahrnehmungsmaterial alles wegzulassen, was nicht wesentlich zur Sache gehört. Sie ist letzten Endes die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Die Informationsflut, der wir heute ausgeliefert sind, beeinträchtigt offenbar diese analytische Fähigkeit, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Wer alles zur Kenntnis nimmt, kann nicht denken. Zum Denken gehört notwendig die Negativität der Unterscheidung und Selektion.
Mehr an Information führt auch nicht notwendig zu besseren Entscheidungen. Die Intuition etwa hängt nicht von der Menge der verfügbaren Informationen ab. Durch die wachsende Informationsmasse verkümmert heute das höhere Urteilsvermögen. Oft bewirkt ein Weniger an Information ein Mehr. Die Negativität des Auslassens und des Vergessens ist produktiv. Gerade das analytische Vermögen setzt die Fähigkeit des Aus- und Weglassens voraus. Mehr Information und Kommunikation allein erhellt die Welt nicht. Die Durchsichtigkeit macht auch nicht hellsichtig. Die Informationsmasse erzeugt auch keine Wahrheit. Sie bringt kein Licht ins Dunkel. Je mehr Information freigesetzt wird, desto unübersichtlicher wird die Welt.
Ab einem bestimmten Punkt ist die Information nicht mehr informativ, sondern deformativ, die Kommunikation nicht mehr kommunikativ, sondern bloß kumulativ. Kommunikation stellt Nähe her. Mehr Kommunikation erzeugt aber nicht automatisch mehr Nähe. Sie schlägt irgendwann in eine abstandslose Indifferenz um. Darin besteht die Dialektik der Nähe. Die Hyperkommunikation zerstört jene Nähe, die näher ist als die Abstandslosigkeit.
Kennzeichnend für IFS sind interessanterweise Symptome wie Selbstzweifel oder Angst, Symptome, die gerade für die Depression charakteristisch sind. Die Depression ist eine narzisstische Erkrankung. Zur Depression führt der überspannte, krankhaft übersteuerte Selbstbezug. Das narzisstisch-depressive Subjekt vernimmt nur Widerhall seiner selbst. Bedeutungen gibt es nur dort, wo es sich irgendwie wiedererkennt. Ihm erscheint die Welt nur in Abschattungen des Selbst. Am Ende ertrinkt es in sich selbst, erschöpft und zermürbt von sich selbst. Unsere Gesellschaft wird heute immer narzisstischer. Soziale Medien wie Twitter oder Facebook verschärfen diese Entwicklung, denn sie sind narzisstische Medien. Die Tweets lassen sich ja letzten Endes auf das Ich-Bin reduzieren.
Interessanterweise gehört auch die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, zur Symptomatik von IFS. Die Verantwortung ist ein Akt, der bestimmte mentale und auch temporale Voraussetzungen erfüllen muss. Sie setzt zunächst die Verbindlichkeit voraus. Sie ist wie Versprechen oder Vertrauen explizit auf die Zukunft gerichtet. Diese Akte binden und stabilisieren die Zukunft. Die heutigen Kommunikationsmedien fördern dagegen Unverbindlichkeit, Beliebigkeit und Kurzfristigkeit. Ein absoluter Vorrang der Gegenwart kennzeichnet unsere Welt. Die Zeit wird zerstreut zu bloßer Abfolge verfügbarer Gegenwart. Die Zukunft verkümmert dabei zu optimierter Gegenwart. Die Totalisierung der Gegenwart vernichtet die zeitgebenden Handlungen wie Verantworten oder Versprechen. So fehlt es heute überall an Zeit. Auch die Piratenpartei ist strukturell und medial auf die Gegenwart fixiert. So wird sie extrem viel Mühe haben mit solchen genuin politischen, d.h. auf die Zukunft gerichteten Akten wie Versprechen, Vertrauen und Verantworten. Sie wird nicht fähig sein, in die Zukunft hinein zu handeln.
Die Gewalt ist eigentlich der Freiheit entgegengesetzt. Heute ist aber eine Dialektik der Freiheit im Gange, die diese wieder in Gewalt umschlagen lässt. So erzeugt die Freiheit des Du kannst ungeheuere Zwänge, unter denen das Leistungssubjekt regelrecht zerbricht. Die Gewalt äußert sich gewöhnlich als Verneinung oder Verletzung durch den anderen. Die Gewalt, die von der Freiheit ausgeht, kommt dagegen von einer grenzenlosen Affirmation. Wir haben hier mit einer Gewalt der Positivität zu tun. Das Leistungssubjekt ist insofern frei, als es keiner Repression durch eine ihm äußere Herrschaftsinstanz ausgesetzt ist. Wird die äußere Repression überwunden, entsteht die Pression im Inneren. So entwickelt das Leistungssubjekt eine Depression. Die Gewalt besteht fort. Sie wird nicht mehr durch den anderen, sondern durch mich selbst ausgeübt. Auch die Information ist als solche eine Positivität. Sie ist an sich keine Gewalt. Aber das Übermaß an Information, ja der Tsunami der Information äußert sich als Gewalt. Sie ist eine Gewalt der Positivität, die der Vermassung und Wucherung des Positiven entspringt. Die Informationsmasse zerstreut, stumpft ab und lähmt. Angesichts der Smartphone-Zombies in Seoul verwandelte sich McLuhans berühmter Spruch "The Medium is the Message" in meinem Kopf in "The Medium is the Mass-Age".
Fotos von I. Gresser