Wörterbuch der Gegenwart
Buch

Wörterbuch der Gegenwart

500 Seiten, gebunden
Preis: 38,00 €

Das Wörterbuch zur Entschlüsselung der Gegenwart und Dekonstruktion falscher Selbstverständlichkeiten.

Was kommt nach dem Universalismus? Viele der Kategorien und Begriffe der Moderne schreiben historische Deutungsmuster fort, von denen sich kritische, postkoloniale und feministische Denker*innen weltweit distanzieren. Doch wie können wir uns über eine globalisierte Gegenwart verständigen, ohne uns auf bestimmte Grundbegriffe zu einigen? Das Wörterbuch der Gegenwart zeigt am Beispiel der zwölf Schlagworte Angst, Bild, Ding, Gewalt, Gerechtigkeit, Körper, Markt, Politik, Sprache, Tier, Wahrheit und Zeit, wie Festschreibungen durch situierte Stimmen neu perspektiviert werden können. Ausschlussmechanismen und Vorannahmen im Hinblick auf Race, Klasse und Geschlecht, aber auch auf Raum und Zeit, werden auf diese Weise sichtbar. Gleichzeitig entstehen Bedeutungsverschiebungen und -erweiterungen, um die Welt sprachlich neu zu gestalten.

Vier Fragen an das Wörterbuch der Gegenwart

 

– Wieso ausgerechnet ein Wörterbuch zur Diagnose unserer Gegenwart?

Um sich mit dem Erbe der kolonialen Moderne auseinandersetzen zu können, bedarf es einer Konfrontation mit ihren Formaten. Wörterbücher wiederum sind elementare Bestandteile dieser Moderne, die seit dem 18. Jahrhundert versucht, das Wissen der Welt systematisch in meist national geordneten Nachschlagewerken zu erfassen. In diesem Sinne erprobt das Wörterbuch der Gegenwart Kritik innerhalb einer bestehenden Form, statt eine Position außerhalb davon zu behaupten. Es setzt jedoch dem definitorischen Ansatz klassischer Wörterbücher einen Aushandlungsprozess entgegen, der unterschiedliche theoretische, literarische und künstlerische Positionen vorstellt.

 

– Warum setzen Sie so großes Vertrauen in Begriffe in einer Zeit, in der – man denke nur an den Begriff der fake news – der Glaube an jegliche Form objektiver Repräsentation verloren scheint?

Tatsächlich geht es im Wörterbuch der Gegenwart weniger um Repräsentation im klassischen Sinne. Die Begriffe verweisen auf zentrale Diskursfelder einer Gegenwart im Wandel. Sie werden nicht auf einen Kern reduziert, sondern dienen als Instrumentarium, um ein Netz an Fragestellungen aufzuspannen – und das mit Stimmen, die bewusst (noch) nicht Teil des Mainstreams sind. Damit kann das Wörterbuch der Gegenwart als eine Lesart der Begriffe verstanden werden, die keine Vollständigkeit für sich reklamiert, sondern eine Perspektivierung vornimmt. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass neue Formen und Akteur*innen der Wissensproduktion auf den Plan treten. Dadurch verändert sich das Arbeiten an und mit Begriffen tiefgreifend, gerade weil sie sich nicht „dingfest“ machen lassen.

 

– Das Wörterbuch der Gegenwart beschränkt sich auf lediglich 12 Wörter. Wie kam es zu dieser Auswahl? 

Übergeordnete Begriffe neigen dazu, ihren Gegenstand auf einem sehr hohen Abstraktionsgrad zu beschreiben. Ihre Bedeutungsräume sind zwar das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, diese laufen in der Gegenwart aber sehr fragmentiert ab und finden häufig in getrennten Sphären statt. Diese Abstraktion gilt es zu überwinden, um die Begriffe in die gesellschaftliche Realität zurückzuholen.

Die hier thematisierten Diskursfelder dienen dabei als Navigationspunkte, die einen Zugang zu den komplexen Fragestellungen unserer Zeit aufzeigen. Dabei wird deutlich, dass die Diskurse – und auch die Kapitel des Wörterbuchs – nicht in sich geschlossen sind, sondern immer wieder Schnittmengen, Überlappungen und fließende Übergänge aufscheinen. So sind in den Kapiteln Wahrheit und Gewalt das postkoloniale Erbe und Rassismus gleichermaßen Thema, aber aus unterschiedlichen Perspektivierungen, die den Fokus – und damit auch das Erkenntnispotenzial – verschieben.

 

– Das Wörterbuch der Gegenwart ist der abschließende Band der Reihe „Bibliothek 100 Jahre Gegenwart“, die den ambitionierten Versuch unternimmt, die Gegenwart als einen Prozess zu definieren, der von der Geschichte ebenso geformt wird wie er diese formt. Welche Hoffnung verbinden Sie mit einem derartigen Projekt? Wie lässt es sich lesen?

Die Publikationen umschließen Themenkomplexe, die exemplarische Diagnosen unserer Gegenwart aufzeigen. Dabei geht es insbesondere darum, Geschichte nicht als abgeschlossenen Prozess zu betrachten, sondern als Ressource, aus deren Analyse neue Denkbewegungen möglich werden. Vor diesem Hintergrund setzt sich das Wörterbuch mit den Zeichensystemen und Repräsentationsformen dieser Themenfelder auseinander und stellt damit eine Metaebene her.

Gemeinsam ist allen Bänden der Bibliothek, dass sie nicht nur aus wissenschaftlichen Texten und theoretischen Essays bestehen, sondern dazu auch künstlerische Beiträge collagieren, die visuelle, poetische oder ästhetische Zugriffe eröffnen. Dieser Ansatz spiegelt eine Praxis wider, die der Komplexität gegenwärtiger Diskursräume gerecht zu werden versucht. Beispielsweise bedient sich der Band Nervöse Systeme der Metapher des Nervensystems, um Aspekte der gegenwärtigen gläsernen Lebenswelt wie Datenanalyse, Reality Mining, Algorithmen und Mustererkennung aus wissenschaftlicher wie künstlerischer Perspektive zu durchleuchten.

 

Buch
ISBN: 978-3-95757-418-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Veröffentlicht: 2019
Schlagworte: Angst, Gerechtigkeit, Körper, Bild, Gewalt, Markt, Kapitalismuskritik, Sprachkritik, Tiere, Umwelt, Natur, Wahrheit, Zeit, Hito Steyerl, Joseph Vogl, Franz Boas, Herman Melville, Georges Bataille
  • Bernd Scherer

    Bernd Scherer ist Philosoph und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Themen der Ästhetik und des internationalen Kulturaustausche. Scherer war für das Goethe-Institut von 1999 bis 2004 als Leiter des Landesinstituts in Mexiko und anschließend der Zentralabteilung in München tätig. Mittlerweile ist er Intendant des Hauses der Kulturen der Welt und Honorarprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

  • Olga von Schubert

    Olga von Schubert ist wissenschaftliche Referentin und Projektleiterin in der Intendanz des Hauses der Kulturen der Welt, wo sie derzeit die New Alphabet School verantwortet sowie die Bibliothek 100 Jahre Gegenwart. Zuvor war sie im kuratorischen Team des Ausstellungsbüros hürlimann+lepp sowie des Deutschen Hygiene-Museums Dresden tätig. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin und hat einen M.A. in Contemporary Approaches to English Studies vom Goldsmiths College London. Als freie Kuratorin verantwortete sie die Ausstellungen alles zur Zeit – Über den Takt, der unser Leben bestimmt (2017) im Vögele Kulturzentrum bei Zürich sowie Die Irregulären – Ökonomien der Abweichung (2013) in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin. Ihr Essay ‘100 Years of Now’ and the Temporality of Curatorial Research erschien im Januar 2019 bei Sternberg Press.

  • Stefan Aue

    Stefan Aue ist Projektleiter im Team der Intendanz am Haus der Kulturen der Welt. Derzeit realisiert er das Projekt Wörterbuch der Gegenwart (2015–2019) und das Archiv-Projekt (2018–2021). Zuvor war er auf dem Gebiet der Wissenschaftskommunikation und politischen Bildung für die Mobile Academy Berlin, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Heinrich-Böll-Stiftung tätig. Er absolvierte den Masterstudiengang Kulturen des Kuratorischen und studierte Soziologie, Psychologie und Medienwissenschaft. Er ist Mitherausgeber der Publikation ArteFakte: Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen (2014) und Redakteur der Bände Hospitality – Hosting Relations in Exhibitions (2016) und Curatorial Things (erscheint 2019). Zuletzt ko-kuratierte er die Ausstellung Swinger im Bärenzwinger Berlin.