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Das Wörterbuch zur Entschlüsselung der Gegenwart und Dekonstruktion falscher Selbstverständlichkeiten.
Vier Fragen an das Wörterbuch der Gegenwart
– Wieso ausgerechnet ein Wörterbuch zur Diagnose unserer Gegenwart?
Um sich mit dem Erbe der kolonialen Moderne auseinandersetzen zu können, bedarf es einer Konfrontation mit ihren Formaten. Wörterbücher wiederum sind elementare Bestandteile dieser Moderne, die seit dem 18. Jahrhundert versucht, das Wissen der Welt systematisch in meist national geordneten Nachschlagewerken zu erfassen. In diesem Sinne erprobt das Wörterbuch der Gegenwart Kritik innerhalb einer bestehenden Form, statt eine Position außerhalb davon zu behaupten. Es setzt jedoch dem definitorischen Ansatz klassischer Wörterbücher einen Aushandlungsprozess entgegen, der unterschiedliche theoretische, literarische und künstlerische Positionen vorstellt.
– Warum setzen Sie so großes Vertrauen in Begriffe in einer Zeit, in der – man denke nur an den Begriff der fake news – der Glaube an jegliche Form objektiver Repräsentation verloren scheint?
Tatsächlich geht es im Wörterbuch der Gegenwart weniger um Repräsentation im klassischen Sinne. Die Begriffe verweisen auf zentrale Diskursfelder einer Gegenwart im Wandel. Sie werden nicht auf einen Kern reduziert, sondern dienen als Instrumentarium, um ein Netz an Fragestellungen aufzuspannen – und das mit Stimmen, die bewusst (noch) nicht Teil des Mainstreams sind. Damit kann das Wörterbuch der Gegenwart als eine Lesart der Begriffe verstanden werden, die keine Vollständigkeit für sich reklamiert, sondern eine Perspektivierung vornimmt. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass neue Formen und Akteur*innen der Wissensproduktion auf den Plan treten. Dadurch verändert sich das Arbeiten an und mit Begriffen tiefgreifend, gerade weil sie sich nicht „dingfest“ machen lassen.
– Das Wörterbuch der Gegenwart beschränkt sich auf lediglich 12 Wörter. Wie kam es zu dieser Auswahl?
Übergeordnete Begriffe neigen dazu, ihren Gegenstand auf einem sehr hohen Abstraktionsgrad zu beschreiben. Ihre Bedeutungsräume sind zwar das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, diese laufen in der Gegenwart aber sehr fragmentiert ab und finden häufig in getrennten Sphären statt. Diese Abstraktion gilt es zu überwinden, um die Begriffe in die gesellschaftliche Realität zurückzuholen.
Die hier thematisierten Diskursfelder dienen dabei als Navigationspunkte, die einen Zugang zu den komplexen Fragestellungen unserer Zeit aufzeigen. Dabei wird deutlich, dass die Diskurse – und auch die Kapitel des Wörterbuchs – nicht in sich geschlossen sind, sondern immer wieder Schnittmengen, Überlappungen und fließende Übergänge aufscheinen. So sind in den Kapiteln Wahrheit und Gewalt das postkoloniale Erbe und Rassismus gleichermaßen Thema, aber aus unterschiedlichen Perspektivierungen, die den Fokus – und damit auch das Erkenntnispotenzial – verschieben.
– Das Wörterbuch der Gegenwart ist der abschließende Band der Reihe „Bibliothek 100 Jahre Gegenwart“, die den ambitionierten Versuch unternimmt, die Gegenwart als einen Prozess zu definieren, der von der Geschichte ebenso geformt wird wie er diese formt. Welche Hoffnung verbinden Sie mit einem derartigen Projekt? Wie lässt es sich lesen?
Die Publikationen umschließen Themenkomplexe, die exemplarische Diagnosen unserer Gegenwart aufzeigen. Dabei geht es insbesondere darum, Geschichte nicht als abgeschlossenen Prozess zu betrachten, sondern als Ressource, aus deren Analyse neue Denkbewegungen möglich werden. Vor diesem Hintergrund setzt sich das Wörterbuch mit den Zeichensystemen und Repräsentationsformen dieser Themenfelder auseinander und stellt damit eine Metaebene her.
Gemeinsam ist allen Bänden der Bibliothek, dass sie nicht nur aus wissenschaftlichen Texten und theoretischen Essays bestehen, sondern dazu auch künstlerische Beiträge collagieren, die visuelle, poetische oder ästhetische Zugriffe eröffnen. Dieser Ansatz spiegelt eine Praxis wider, die der Komplexität gegenwärtiger Diskursräume gerecht zu werden versucht. Beispielsweise bedient sich der Band Nervöse Systeme der Metapher des Nervensystems, um Aspekte der gegenwärtigen gläsernen Lebenswelt wie Datenanalyse, Reality Mining, Algorithmen und Mustererkennung aus wissenschaftlicher wie künstlerischer Perspektive zu durchleuchten.