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Ein Gespräch mit dem Hessel-Preisträger Éric Vuillard über Ballade vom Abendland
Ballade vom Abendland erzählt eine Episode aus dem Ersten Weltkrieg. In Frankreich ist das bereits 2012 erschienene Buch im März 2014 gerade auch als Taschenbuch herausgekommen. Es ist natürlich kein Zufall, dass die deutsche Übersetzung ebenfalls in diesem Frühjahr erscheint.
EV: Die Ballade ist auf keinen Fall ein Gedenkbuch. Sie ist ja, wie gesagt, in Frankreich bereits im März 2012 gleichzeitig mit Kongo erschienen. Das Buch behandelt nicht nur das Schmerzliche, es hat auch eine satirische Seite, die mit dem feierlichen oder selbstmitleidigem Aspekt der Gedenkfeiern kontrastiert.
Warum also 1914?
EV: Der Krieg der Jahre 14-18 (oder 14-19 für die Deutschen) ist in seinen Ursachen undurchsichtig, brutal in seinem Ausbruch und in seinen Folgen verheerend. Mich interessiert vor allem der Bezug zu unserer Zeit. Auch wir leben in einer Epoche der Ungewissheit. Wir können unmöglich wissen, was uns noch bevorsteht, sodass uns der brutale Ausbruch dieses Krieges besonders fasziniert. Außerdem erinnert das komplexe diplomatische Konstrukt am Vorabend des Ersten Weltkriegs an die scheinbar gut durchdachte und dauerhafte Struktur unserer supranationaler Institutionen. Alles scheint den Frieden zu garantieren. Und doch reichen ein paar Pistolenschüsse in Sarajewo, um das ganze Konstrukt zunichte zu machen.
Sprechen wir also über diese Schnittstelle, über die Art und Weise, in der sich die Literatur der Geschichte annimmt.
EV: Die ausgeprägte Undurchsichtigkeit dieses Krieges legt das Schreiben als Mittel zum Verstehen nahe. Es handelt sich um einen modernen, mechanisierten, sehr rationalen Krieg, der gleichzeitig etwas Unbegreifliches ausstrahlt. Seine Gewalt, die zum Teil aus diesem Rationalismus hervorgeht, wirkt verstörend. Ich habe den Eindruck, dass das Schreiben Wahrheiten ans Licht bringen kann, die eingangs nicht gegegeben sind. Beim Schreiben tastet man sich weiter, nimmt Umwege und vertraut sich letztlich der Macht der Sprache an. Manchmal gelingt einem nichts, sodass man aufhören muss, weil die Geschichte einfach nicht greift, aber es gibt eben Momente, in denen man getragen wird und das Schreiben etwas zu offenbaren imstande ist.
Schaffen Sie mit dieser Suche nach der geschichtlichen Wahrheit ein neues literarisches Genre?
EV: Was mir an einem Buch gefällt, ist die Mischung unterschiedlicher Kräfte, wenn Bilder, Gedanken und Erzählfluss eng miteinander verknüpft sind. Ich bin über die Dichtung zur Literatur gekommen, über Villon, Rimbaud, Whitman, die alle in gewisser Weise mit der Gesellschaft gebrochen haben. Sie sind gleichzeitig lyrisch und ein bisschen schlampig, erhaben und unverschämt. Das gleiche gilt für die Prosa: Ich mag sie opulent und nachlässig. Die Sprachebenen müssen sich kreuzen. Wenn man zum Beispiel das Gehabe der Mächtigen beschreibt und dabei ein bisschen Argot in ihre Sätze wie ein paar Schuppen auf den Kragen streut, dann ist das eine Form der Entsakralisierung. Der Roman, die Prosa, sollen uns ernüchtern. Um es ein bisschen zu überzeichnen: Balzac ernüchtert uns von der Macht und vom Geld, Joyce von der Lyrik und vom Epos. Während der eine unser Porträt zu einer Grimasse verzieht, gibt der andere uns dem gewöhnlichen Leben zurück. Die Literatur arbeitet daran, den Mythos aufzuheben. In dieser Hinsicht glaube ich, dass der Roman sozusagen gegen sich selbst gearbeitet, seine eigenen Kräfte unterlaufen hat. Er hat uns teilweise vom Heldentum befreit, von den moralischen Werten, von den angeblichen Motiven unseres Handelns. Und die Romanfiguren haben ihre Aura verloren und sich im Schreiben aufgelöst.
Ersetzt also die Geschichte die herkömmlichen Protagonisten der Literatur?
EV: Jedenfalls hat die Geschichte über uns noch diese Zaubermacht. Allein die Bezeichnug "Kaiser" lässt eine ganze Welt wieder auferstehen! Als Schriftsteller zieht mich die Aura der Geschichte fast magnetisch an. Dabei misshandle ich sie ständig, entziehe mich ihr. Das ist ein unüberwindbarer, aber fruchtbarer Widerspruch: Die Aura aktiviert das Schreiben, das Schreiben wiederum will sie verscheuchen und zerstören. Im Grunde besteht die Fiktion nicht wirklich im Erfinden von Geschichten - sie ist vielleicht nichts anderes als diese Spannung zwischen der Aura der Eigennamen (ob Rastiganc oder der Kaiser) und einem unbestimmten Widerwillen gegen die Größe, eine Herausforderung des schönen Scheins, eine Art Libido, die sich nicht mit den Mythen zufrieden gibt, sondern mehr Wirklichkeit einfordert.
Ja, die Geschichte ist ein ungeheuerliches kollektives Abenteuer, sie reißt uns alle mit, sogar die ältere Geschichte betrifft und berührt uns. Ihre Protagonisten stehen in nichts den Romanfiguren nach. Nehmen wir das Beispiel von Schlieffen, der in Ballade vom Abendland eine wichtige Rolle spielt: ein Mann, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, einen Krieg ohne jede politische Vernunft zu planen, ohne dass sein Land den geringsten Angriff erlitten hätte. Übrigens erfindet auch er eine Art Fiktion, indem er sein Leben darauf verwendet, einen Krieg zu erträumen, zu planen, herbeizusehnen und auszumalen.
Welches literarische Werk bedeutet Ihnen besonders viel?
EV: Victor Hugos Die Elenden wurden in einer großartigen Spannung geschrieben, auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Erzählung und Beschreibung. Zwei ganz andere Schreibarten. Man neigt dazu, die Beschreibung zu vernachlässigen, sie gilt sogar als langweilig. Ich glaube das Gegenteil. Die Beschreibungen bei Hugo sind unerhört dicht, sie unterstreichen sein Verhältnis zur Welt, zur Wirklichkeit und zur Geschichte.
Und wie vollzieht sich der Prozess des Schreibens als solcher, der Übergang von der Geschichte zur Literatur?
EV: In einem Schwung! Ich lade mich wie eine Batterie auf, und dann geht es eines Tages plötzlich los. Manchmal reißt mich die Strömung mit, es geht gut voran, der Rhythmus stimmt. Dann wieder geht alles schief und ich versande völlig, bis ich alles in eine Schublade stecke. Ich warte dann eine Weile, beschäftige mich mit anderen Texten und kehre manchmal wieder zu meinen abgebrochenen Versuchen zurück. Ich versuche es nochmal, und manchmal klappt es. Dabei kann ich sogar plötzlich merken, dass das Buch schon fast fertig war und ich es nur nicht gesehen hatte. Kongo zum Beispiel ist aus einem Guss entstanden, aber die Ballade brauchte zwei, drei Anläufe - nach zwei Jahren im Fegefeuer.
Ihre Bücher scheinen auch miteinander in Verbindung zu stehen. Die kurze Erzählung Kongo zum Beispiel ist 2012 zeitgleich mit dem französischen Original der Ballade erschienen. Ist sie als Vorspiel zu der Katastrophe von 1914 zu verstehen?
EV: Ja, tatsächlich beschreibt Kongo dieses wahnwitzige Treffen zwischen den europäischen Mächten in Berlin 1884, das mit der Teilung Afrikas endet - als Höhepunkt wird der Kongo-Freistaat zum Privateigentum des Königs der Belgier. Das Buch zeichnet das Porträt dieses merkwürdigen und fragilen europäischen Gleichgewichts, in dem der Kolonialismus zu einem beliebigen Tauschobjekt wird. Natürlich bereitet er den Nährboden für den Ersten Weltkrieg. Eigentlich habe ich schon mit Conquistadors (2009) damit begonnen, diesen Abschnitt unserer Geschichte in einzelnen Fragmenten zu erzählen. Das war so nicht geplant. Vor fünfhundert Jahren hat sich der Westen an die Eroberung der Welt gemacht. Jedes meiner Bücher widmet sich einer Episode dieser langen Fortsetzungsgeschichte, die uns direkt betrifft, aber auch eine universelle Tragweite hat. Ich suche von Buch zu Buch nach Erleuchtungen. Als würde sich eine ständig flüchtende Wahrheit portionsweise offenbaren, meine Motiviation immer wieder erneuern und meine Absichten berichtigen.
Wie steht es um Ihr neues Buch, das im September bei Actes Sud erscheinen wird?
EV: Es ist ein Buch über die Entstehung des Massenspektakels in den Vereinigten Staaten. Die Geschichte spielt zur Zeit der letzten Massaker an den Indianern. Das Buch erzählt also zwei Geschichten, sozusagen die richtige und die falsche. Das war übrigens eine seiner Hauptschwierigkeiten, und ich habe vier Jahre gebraucht, um es abzuschließen. Es ist gleichzeitig ein Buch über die spektakuläre Wild West Show von Buffalo Bill, und über die letzten Indianerkriege.
Es war schwer, den richtigen Ton zu treffen die Indianer sind zu Folklorefiguren geworden, ihre ganze Geschichte wird mit dem klassischen Western assoziiert. Zwischen den letzten überlebenden Indianern und der amerikanischen Welt ist keine Schicksalsgemeinschaft möglich. Die Indianer werden immer verfälscht und von der großen amerikanischen Fabel entstellt. Ich musste also unbedingt vermeiden, dass die Show überhand nimmt, dass die Parodie das Buch verdirbt, dass die Inszenierungen von Buffalo Bill das Unglück versüßen und zur bloßen Fabel verblassen lassen.
Kennzeichnet also das Ihre Bücher: zwei Erzählungen, die richtige und die falsche Geschichte?
EV: Es gibt keine richtige oder falsche Geschichte, das ist nur ein sprachlicher Kunstgriff für den Sachverhalt, dass es tatsächlich immer zwei Erzählungen gibt. Wie ein Kampf zwischen den menschlichen Interessen oder Standpunkten, wenn man so will. Manchmal bleibt die Geschichte auch einfach stumm, es gibt keine Zeugnisse, und die Literatur versucht diese Lücke zu schließen. Sie verleiht dem Leiden ohne Archive eine Stimme.
Das Gespräch wurde am 18. Februar 2014 in Laval geführt. Die Fragen stellte Nicola Denis
»Kein Gedenkbuch und keine Geschichtsfibel, sondern eine tragikomische Kriegsballade und eine weit ausgreifende Rhapsodie. [...] Die Übersetzung von Nicola Denis bringt die Sprengkraft diese Erzählens, das opulent ist und lässig, pathetisch und ironisch, auch im Deutschen zum Ausdruck.«
– Michael Braun, Kölner Stadt-Anzeiger
»Polemisch und sarkastisch ist das Buch, aber die erschütternde Absurdität des Krieges, erfasst Vuillard mit extrem verdichteter Erzählweise und an Lyrik erinnernde Sprachbilder.«
– Goslarsche Zeitung
»Eigensinn, bestechende, manchmal brachiale Originalität.
Es taucht ein von Halbwahrheiten und Stereotypen verschattetes Geschehen in ein neues Licht; schon deshalb ist es zu begrüßen. In der Literatur, anders als im Krieg, führen Attacken ohne Flankenschutz nicht zur Niederlage. Hier sorgt jede Bewegung für Geländegewinn.«
– Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Die absurde Essenz des Ersten Weltkriegs,...«
– Tilman Krause, DIE WELT
»Vuillard versucht, Geschehenes in ein Verhältnis zu setzen und findet dafür einen Stil, der in seiner Eile spüren lässt, dass der 1968 geborene Autor nicht nur Schrifsteller ist , sondern auch Filmemacher. Er bedient sich gewissermaßen des filmischen Stilmittles der schnellen Schnitte und findet dabei trotzdem die Zeit, außergewöhnliche sprachliche Bilder in Szene zu setzen. «
– Radio Bayern 2