Voll bissiger Ironie erzählt Margarita Perveņecka vom Alltag im modernen Lettland, in dem die Uhren etwas anders ticken.
Lotte fuhr zum ersten Mal in ihrem Leben ins Ausland. Das Zugabteil teilte sie mit vier RÄ-Aktivistinnen. Alle in graues Leinen gewandet, mit nationalgrauen Haaren und Augen, letztere voll von metaphysisch glänzender Verzweiflung, die die Organisation als nationalpatriotische Glut interpretierte und nach der sie ihre Mitgliedsanwärter auswählte. Als die vier Mädchen in dem engen Abteil aufeinandertrafen, waren sie für einen Moment verwirrt, als würden sie ineinander sich selbst sehen. Aber schon bald deklarierten sie abwechselnd und gleichzeitig ihre Ansichten bezüglich der Vorgehungsweise der Staatlichen Einwanderungsbehörde, als sie unlängst eine Gruppe pakistanischer Flüchtlinge ins Land ließ. Gegen Morgen trat Stille ein: Vor dem Zugfenster ging auf einem verschneiten Berggipfel die Sonne auf. Im Vordergrund lümmelten schwarz-weiße Kühe im Gras herum. Der Zug fuhr an einem Bahnhof vorbei, auf dem halbnackte Models posierten … d. h., zwei verschwitzte Hirten bissen in ein traktorreifengroßes Stück Käse. Die Mädchen drehten sich jedes in seinem Regalfach zur Wand um. Sie waren ja schließlich schon große Tanten.
Ebook
ISBN: 978-3-95757-182-3 9783957571823
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Veröffentlicht: 2015
Reihe: MSeB