»Rhizom«, »Differenz«, »Tier-Werdung« – die Liste der Begriffe der Philosophiemaschine Deleuze (1925-1995) ist unendlich, einflussreich sind sie nahezu alle. Foucault behauptete gar, man werde das 20. Jahrhundert einst als »deleuzianisches« bezeichnen. Was zeichnete die Philosophie des französischen Denkers aus und was können wir noch heute von seiner Philosophie lernen?
Am Anfang war die Differenz
Aller Anfang ist schwer, im Falle von Deleuze jedoch ebenso simpel wie abstrakt. Der bisherigen Tradition ontologischen Denkens von Plato über Descartes bis Kant und Hegel warf er vor, den subjektiven Voraussetzungen der Philosophie durch impliziten Vorannahmen aus dem Weg gegangen zu sein, etwa durch die Setzung von Subjekt und Objekt. Um wahrhaft voraussetzungslos anzufangen, müsste man mit der Differenz selbst beginnen, einer Differenz, die nicht relativ zwischen zwei als vorausgesetzten Dingen gedacht wird, sonder »an sich selbst«.
Eine Unterordnung der Differenz unter Kategorien wie der Identität akzeptierte Deleuze nicht. Dieses »dogmatische Bild des Denkens«, wie Deleuze es nannte, verkenne die Singularität und Prozesshaftigkeit des wirklichen Lebens, kurz: das »Werden« im Spiel der Differenzen. Anstatt dem Denken der Repräsentation verhaftet zu bleiben, entwickelt Deleuze eine Terminologie, die sich jeder Statik und Klassifikation widersetzte.
Als paradigmatisch hierfür kann der Begriff des »Rhizoms« gelten, das der botanischen Bezeichnung für Wurzelgeflechte entlehnt wurde. Das Rhizom bezeichnet hierbei nicht weniger als eine neue Konzeption des Wissens jenseits der strengen Dichotomie des hierarchisch organisierten Baumdiagramms. In dieser »Anti-Genealogie« stehen sich Beziehungen nun nicht mehr derivativ und binär gegenüber. Vielmehr betont das Rhizom die prinzipiell unendliche Rekonfiguration von Verbindungen und Assoziationen.
Radikale Kritik der Psychoanalyse
Nachdem sich Deleuze zu Beginn seines philosophischen Schaffens in umfassenden Monographien vor allem mit Hume, Nietzsche, Kant, Bergson und Spinoza auseinandergesetzt hatte, folgte Anfang der 1970er-Jahre die Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari (1930-1992). Guattari war bereits seit den 50er-Jahren in der psychiatrischen Reform-Klinik La Borde tätig gewesen, die sich die Abschaffung von Hierarchien zwischen Ärzten und Patienten zum Ziel gesetzt hatte. Neben Tausend Plateaus (1980) und Was ist Philosophie? (1991) gilt vor allem der Anti-Ödipus (1972) als das wirkmächtigste Werk von Guattari und Deleuze in Deutschland. Darin kritisierten sie insbesondere die starre Fixierung der Psychoanalyse auf Vater-Mutter-Kind und die Reduktion psychischer Probleme auf den titelgebenden Ödipuskomplex.
Begehren sollte nach Deleuze und Guattari nicht mehr als etwas Unterdrücktes gedacht werden. Vielmehr sollte das experimentelle Potential der »Wunschmaschinen« in den Mittelpunkt der »Schizoanalyse« gestellt werden. Deren Begriff war bewusst als Revision der prominenten Rolle des Neurotikers bei Freud gewählt worden. Damit ging ebenfalls eine radikale Kritik starrer Geschlechterrollen und dem binären Denken zwischen Mann und Frau einher. Obwohl insbesondere das Konzept der »Frau-Werdung« in den 1980er-Jahren von Feministinnen kritisiert wurde, hat Deleuze auch für Feminismus und die Gender Studies entscheidende Impulse geliefert. Stark beeinflusst von den Ideen zur Wunschentwicklung wurde auch Klaus Theweleit, der die Thesen des Anti-Ödipus in seiner monumentalen Studie Männerphantasien einem Praxistest unterzog.
In den 70er-Jahren begann außerdem die Zusammenarbeit mit seiner Schülerin Claire Parnet. Die Gespräche wurden in dialogues (1977) veröffentlicht, das zugleich als eine verständliche Einführung in das deleuzianische Denken gelten kann. Elf Jahre später entstand im Rahmen dieser Zusammenarbeit das monumentale achtstündige Fernseh-Interview L’Abécédaire de Gilles Deleuze.
Auf dem Weg in die Kontrollgesellschaft
In dem 1990 erschienen Postskriptum zur Kontrollgesellschaft setzte sich Deleuze prägnant und gleichsam prophetisch mit der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufkommenden Gesellschaftsform auseinander, die er als »Kontrollgesellschaft« bezeichnete. Der französische Philosoph Michel Foucault hatte auf der Basis seiner Untersuchungen zur Entstehung des modernen Gefängnisses im 19. Jahrhundert in Überwachen und Strafen (1975) von »Disziplinargesellschaften« gesprochen. In diesen werde das Individuum in verschiedenen Milieus wie dem Gefängnis, der Klinik, der Fabrik oder der Kaserne eingeschlossen und in den dort verorteten Machtstrukturen diskursiv geprägt.
Deleuze sah diese Tendenz in der Kontrollgesellschaft auf eine neue Stufe gehoben. An die Stelle der Fabrik trete das Unternehmen, das eine »ständige und unhintergehbare Rivalität« zwischen den Angestellten verbreite. Das Individuum sehe sich fortwährendem Weiterbildungs-Druck ausgesetzt und werde letztlich in sich selbst gespalten. Während Disziplinargesellschaften noch von geprägtem Geld dominiert gewesen seien, verschiebe sich in Kontrollgesellschaften der Fokus auf die Dominanz von Wechselkursen, Daten, Banken und Märkten. Auch die Anfälligkeit moderner Technik für Manipulation und Überwachung sah Deleuze ebenso kritisch, wie die immer stärker werdende Rolle des Kapitals, die sich auch in Form der sozialen Kontrolle durch Marketing zeige – Gedanken, die später etwa durch Bifo Berardi aufgenommen und weiterentwickelt wurden.
Aktueller denn je?
Obwohl das deleuzianische Denken längst in den Kanon der Philosophie eingegangen ist und unzähligen Philosophen, Wissenschaftler und Künstler beeinflusst hat, so wüsste man dennoch gern, wie er sich zu aktuellen Fragen äußern würde. Er, der immer das Denken des »Problems« bevorzugte, einem Problem, das Fragen generiert, anstatt scheinbar einfache Antworten im Schema richtig vs. falsch zu liefern. Dies gilt umso mehr in diesen postpandemischen Zeiten, in denen die Identität in Form von Nationalismus und Autoritarismus grausamer als je zuvor ihr Unwesen treibt; in denen Einsamkeit und kultureller Backlash auf der Tagesordnung stehen und die Bedrohungen des Internets durch Propaganda und Wahlbeeinflussung, aber auch durch Datendiebstahl und Überwachungsszenarien immer präsenter werden. Die deleuzianischen Einsichten zu Netzwerken, Kontrollgesellschaft und Multiplizität erscheinen da wie ein hoffnungsvolles Anti-Serum. Zugleich wird aber auch eine Grenze dieses Denkens ersichtlich. Denn zeigt das Aufkommen der Identitätspolitik nicht auch, dass sich Minderheiten gegen die Herrschaft von Unterdrückung und Ausgrenzung vielleicht doch nur durch die Bildung widerständiger Identitäten wehren können?
Am 3. November 1995 stürzte sich Deleuze aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung. Lange hatte er an einer quälenden Lungenkrankheit gelitten. Einen Unterschied aber macht er noch immer.