Es gibt derzeit zwei diametral entgegengesetzte gesellschaftliche Phänomene, die sich möglicherweise als zwei Seiten derselben Medaille entschlüsseln lassen: Das ist einerseits die Tendenz zur Besetzung diskursiver Räume wie Universität oder Parlament, die Gewalt gegenüber Diskursbeauftragten wie politischen Repräsentanten. Ebenso verbreitet sich aber, in der entgegengesetzten Richtung, eine Praxis wie die Meditation, die eben nicht nur das nächste große Ding der Achtsamkeitsindustrie darstellt, the next Yoga, sondern sich auch kulturell entschlüsseln lässt – als Ausstieg aus dem Diskurs, als undiskursive Gegenwehr. So verschieden und unvergleichbar die beiden Phänomene der Gewalt und der Meditation sind, so sehr haben sie den Bruch mit dem Diskurs und den Ausstieg aus dem Palaver gemeinsam. Sie sind undiskursive Gegenwehr.
Diese Praktiken sind für den Westen jedoch umso unlesbarer, als sie blinde Flecken der auf diskursiven Austausch gegründeten liberalen Demokratien darstellen. Aus demselben Grund können sie – jedenfalls, was die Seite der Meditation angeht – aber helfen, westliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und Selbstverständnisse einzuklammern: Beispielsweise die Selbstverständlichkeit des Diskurses, des rationalen (und am besten schriftlichen) Austausches über Gott und die Welt, bei der jedoch nur ein kleiner Teil der (westlichen) Welt überhaupt bemerkt, dass allein schon diese Form des Austausches – die Reflexion, der Diskurs – große Teile der Welt ausschließt oder einfach nicht mit-bedenkt. Gott und die Welt fühlen sich diskursiv nicht unbedingt angesprochen. Schließlich gibt es ganz andere Praktiken und Erfahrungen als das Denken und Diskursivieren, die trotzdem geistvoll oder geist-lich sind; man kann ganz andere Dinge mit dem Geist anstellen als einfach nur: zu denken. Zum Beispiel Meditieren; das Meditieren zeigt uns, dass man mit seinem Geist nicht nur denken kann, sondern ihn auch erfahren kann. Dieses Erfahren demonstriert dann als solches allein schon, wie unendlich voraussetzungsreich und unselbstverständlich unsere westlichen Formen des Betriebes des Geistes sind. Dabei kann es verblüffend sein, zu erfahren, dass andere Praxen des Geistes weniger Inhalte produzieren als Energien, die das Denken nicht instrumentalisieren, sondern materialisieren. Die Materialität des Geistes berührt. Sie macht etwas und ist selbstwirksam, wie man heute sagt. Sie stiftet Erfahrungen im Sinne Simone Weils, innere Erfahrungen im Sinne ihres antipodischen Freundes Georges Bataille: Erfahrungen jedenfalls, nach oder mit denen die Dinge plötzlich ganz anders aussehen können. Dabei geht es nicht um die Forderung nach Meditation für alle, darum, dass alle meditieren sollten oder Yoga machen sollten – zwei Begriffe, die im übrigen im Französischen identisch sind, wie uns Emmanuel Carrère beigebracht hat –, sondern allein um den Versuch, radikale Außenperspektiven auf den Westen und seine blinden Flecken einzunehmen: Außenperspektiven und neutrale Punkte, die wir heute nötiger haben denn je, um die Krisen der Welt zu verstehen, die immer auch Krisen unseres Verständnisses sind. Dabei ist es so einfach, zu sehen, wie beschränkt die westlichen Perspektiven sind – es braucht nur einen kleinen Schritt zur Seite (und es ist wirklich nur ein kleiner Schritt, beispielsweise vom westeuropäischen Begriff der Meditation im Sinne von Reflexion zur Meditation als Praxis, wie wir sie aus Indien und Ostasien kennen), und diese andere Praxis des Geistes zeigt uns, was man noch alles mit ihm machen kann außer ihn zum Dauerdenken anzutreiben. Nichts gegen das Denken, aber das Denken – zum Beispiel über andere Kulturen – wird schnell hierarchisch, blind gegenüber seinem Tun, verirrt sich in seinen Inhalten, ohne zu bemerken, dass allein schon seine Form problematisch ist, dass westliche Diskurse immer weiter die offenen Türen einrennen, die sie sich selbst öffneten. In der Geste einseitiger Diskurserhitzung wird die kulturelle Kommunikation schnell zu einem Selbstgespräch, zu jener einseitigen Diskursautobahn, die tagtäglich durch die Netze rauscht, ohne Berührung mit der Außenwelt oder undiskursive Gegenwehr. So verliert man sich immer weiter und immer unwiederbringlicher in den Inhalten des Denkens, die das offene Geheimnis verschleiern, dass es nicht nur problematische Inhalte, sondern ebenso problematische Formen gibt: Je tiefer wir uns diskursiv verstricken und die (notwendigen!) Diskurse dreschen, desto mehr schieben sich die Inhalte vor die Formen, desto weniger merken wir, dass es allein schon die Formen unseres Austausches sind, die andere aussteigen und nicht partizipieren lassen.
Damit der Westen nicht nur narzisstisch gekränkt mit sich selbst redet, hilft nicht Entschleunigung, sondern Erfahrung, soziale Energie im Sinne Hartmut Rosas – wir brauchen eine andere »Kommunikation« (Bataille) von Anfang an, neutrale Orte im Sinne Hito Steyerls, von denen aus oder an denen wir uns überhaupt begegnen können – Orte der Begegnung im Sinne Carolin Meisters und Jean-Luc Nancys. Solche Orte innerhalb der Diskurse zu bestimmen, ist schwierig und nach den jüngsten antidiskursiven Gewaltakten sicher unmöglich geworden. Umso dringlicher braucht unser Reden die Rückbindung an Berührungen, Kontaktzonen und Verschleifungen, die uns als solche schon die Relativität und den Voraussetzungsreichtum der Diskurse vorführen – extradiskursive Orte, an denen ganz neue Begriffe und verschiedene Verständnisse entstehen können, die von ihrem inneren Außerhalb oder äußeren Innerhalb aus eher Begegnungen ermöglichen als andere.
Knut Ebeling, 1970 in Hamburg geboren, ist Professor für Medientheorie und Ästhetik an der weißensee kunsthochschule berlin. Seine Arbeitsfelder sind moderne und zeitgenössische Philosophie, ästhetische Theorien, Medien des kulturellen Gedächtnisses (Archiv, Sammlung, Museum), Theorie, Ästhetik und Epistemologie der materiellen Kultur sowie Archäologie der zeitgenössischen Kunst. Zuletzt erschienen von ihm Wilde Archäologien (2012, 2016) sowie Sorge. Autotheorie der Trauer (2022).