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Hans-Ulrich Müller-Schwefe über Reto Hänny
Am Anfang seiner Karriere (Karriere – schon höre ich Reto Hännys Hohnlachen), in seinem ersten Buch (Ruch) beschreibt der Autor Umweltkatastrophen: mehr als einen erosionsbedingten Bergsturz, der alles (Gestein, Bäume, Erdreich), Häuser, einen Hof samt Käserei zu Tal reißt – mit anderen Worten: tausend Dinge, die benannt sein wollen.
Aus dem Schutt gestörter, zerstörter Heimat, möchte ich mir vorstellen, setzt Reto Hänny (in diesem Buch und in allen folgenden Büchern) neu etwas zusammen, ein Artefakt, Artefakte. Dabei hat das Geröll auch ihn selber mitgerissen, vom Berg ins Tal, vom Dorf in die Stadt, von der ersten in die zweite und dritte deutsche Sprache, aus der Kindheitswelt in eine neue, nie mehr selbstverständlich richtige und heile Welt – sie hat auch ihn mitgerissen, verletzt, verwirrt, klüger – und zum Schriftsteller gemacht.
Auf Chur, nein Ruch (Ein Bericht, 1979) folgte 1981 Zürich, Anfang September, das Buch über die hiesigen Jugendunruhen (des Autors erfolgreichstes), 1984 eine revidierte Fassung von Ruch, 1985 Flug, 1991 Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa (über eine Polenreise, die in Berlin, unversehens mit dem Mauerfall 1989, endete).1994 erschien Helldunkel. Ein Bilderbuch (aus lauter Worten, wie sich versteht). Eine Lesung aus diesem heute wie vergessenen Haupt- und Meisterwerk bescherte ihm den Ingeborg Bachmann-Preis 1994 - und üble Presse-Häme in der Schweiz: Hänny ein Pornograph! 2007 erschien eine „Übermalung“ von Flug – und jetzt also ist Blooms Schatten ans Licht gekommen.
Vor zehn oder vierzehn Tagen sah ich in Berlin bei der Berlinale den Film Das finstere Tal. Ein Alpen-Western, so wird er genannt, der die Geschichte einer Rache-Orgie erzählt, die in der Tat jedem Western Ehre machen würde. Die sich aber nicht in Amerika, sondern in den Bergen Südtirols zuträgt, über die Folgen eines brutal angemaßten ius primae noctis – ist nicht von so etwas (wie von allem anderen auch!) im Ulysses ebenfalls die Rede?
Ließe sich Blooms Schatten, die freie Nacherzählung des Ulysses von James Joyce, um die es heute abend geht, als ein Alpen-Ulysses bezeichnen? Nein, denn die Geschichte wird mitnichten nach Zürich (in Fritz Senns Nähe) verlegt, aus der Liffey wird nicht die Limmat, Guinness bleibt Guinness. Und doch: Reto Hännys unverkennbare Sprache, die nicht jeden schweizerdeutschen Ausdruck umgeht, färbt die Geschichte eines langen Tages aus dem Leben des Annoncenakquisiteurs Bloom fremd und frisch ein.
In Flug geht es um ein Kind, das wegen der weiterführenden Schule aus dem Dorf in die Stadt verbracht wird. Ein Deutschlehrer gibt ihm nach einiger Zeit Bücher für Fortgeschrittene zu lesen, darunter Günter Grass, Franz Kafka und Joyces Ulysses. Aus einem Resümee dieses Jahrhundertbuchs von wenigen Seiten, geschrieben aus der Perspektive des Schülers in Flug, ist jetzt endlich, nach Jahren, über eine erweiterte Fassung in der Übermalung dieses Entwicklungsromans, Blooms Schatten geworden.
Zu Reto Hännys Schreibverfahren gehörte schon immer das hypotaktisch bauende Erweitern von Sätzen und Satzzusammenhängen, das (am Schluß dann wieder strengstens kontrollierte) Ausufernlassen. Aber so schön weit wie in Blooms Schatten hat er es vielleicht noch nie getrieben. Entstanden ist das musikalische Kunstwerk einer Lesepartitur, die uns vom Autor in Teilen gleich zu Gehör gebracht wird. Die Aufführung nimmt uns Arbeit ab, denn dieser Aufführende, er kennt und beherrscht seine Satzzusammenhänge, die erforderlichen Intonationswechsel und Betonungen natürlich aus dem Effeff.
Aber auch das Stumm- und Selberlesen macht großen Spaß – sei es, daß man dem Text folgt, einfach weitergeht, wo es vertrackt und unabsehbar wird, auch wenn einen der Schwindel packen will, darauf vertrauend (zu Recht!), daß sich der Zusammenhang, leicht zeitversetzt, doch jedesmal einstellt – sei es, daß man tastend, prüfend, die Zusammenhänge rekonstruierend liest und wiederliest, die Komposition im einzelnen nachvollzieht, bevor man sich dem Fluß überläßt.
Josef Winkler, der Kärntner Autor, ebenfalls Bauernsohn - auch neben ihm darf ich, die längste Zeit schon, herlaufen - behauptete kürzlich, es komme ihm nur mehr auf das Formulieren schöner Sätze an. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich Hännys Nachbemerkung zu Blooms Schatten las – die ich hier nicht vorwegnehmen will. Völlig nachvollziehbar, was die beiden sagen, wenn sie das Formale betonen. Bei Hänny spielt der intertextuelle Aspekt eine große Rolle: also die Lust der Anspielung, des Zitats, einen vorgegebenen (gern auch: eigenen) Text zu verändern, aufzuladen, zu dekonstruieren usw. Aber bei beiden sind es, glaube ich, zugleich Schutzbehauptungen, die von der Immer-neu-Gestaltung eigener Affekte und Obsessionen, Begierden und Verletzungen und Träume ablenken sollen, um uns mit ihnen lustvoll unbemerkt, also ungehindert desto sicherer zu erwischen.
Hans-Ulrich Müller-Schwefe - 26/2/14 - Zürich
Buch
ISBN: 978-3-88221-199-3 9783882211993
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Veröffentlicht: 2014
Originaltitel: Blooms Schatten (Deutsch)
Schlagworte: James Joyce, Joyce, Ulysses, Literatur, Musik, 20. Jahrhundert, Bloomsday, Irland, Großstadtroman, Dublin
»Literatur in größtmöglichem Abstand zum Mainstream«
Urs Widmer
»Nahe am Original-Ulysses, was den Umgang mit literarischen Quellen und den mitunter bissigen Humor angeht, fern davon, eine Nacherzählung zu sein, ist ›Blooms Schatten‹ im Grunde der virtuose Nachweis von Reto Hännys Überzeugung, dass Literatur aus Literatur entsteht.«
Eva Caflisch, seniorweb.ch, 16. Juni 2015
»Ein geniales Schattenexperiment, das ästhetisch ein Marianengraben trennt von der normalen Saisonware der immergleichen Geschichten.«
Alexander Cammann, Die Zeit, 16. April 2014
»Reto Hänny paraphrasiert den ›Ulysses‹ von James Joyce und schafft ein Werk von eigener musikalisch-poetischer Kraft. Man lernt mit diesem Buch neu lesen.«
Roman Bucheli, NZZ, 29. März 2014
»Wie Joyce schildert Hänny in seinem Buch die kognitive Irrfahrt eines Jedermenschs in den bewegten Untiefen der alltäglichen Ereignislosigkeit. Spielerisch leichtfüssige, zynisch scharfe Schneckenhaussatzstücke winden sich immer enger um ein Detail ... Ein Genuss.«
Anja Conzett, Südostschweiz, 28. Februar 2014
»Kein Autor hat seine LeserInnenschaft so herausgefordert und KollegInnen derartig inspiriert wie James Joyce. Nun hat auch der Zürcher Schriftsteller Reto Hänny ein ›Süppchen‹ damit zubereitet - ein ganz besonderes. Dem Bloom seiner Joyce-Adaption folgt man gebannt.«
Ulrike Baureithel, WOZ, 20. Februar 2014
Urs Widmer
»Nahe am Original-Ulysses, was den Umgang mit literarischen Quellen und den mitunter bissigen Humor angeht, fern davon, eine Nacherzählung zu sein, ist ›Blooms Schatten‹ im Grunde der virtuose Nachweis von Reto Hännys Überzeugung, dass Literatur aus Literatur entsteht.«
Eva Caflisch, seniorweb.ch, 16. Juni 2015
»Ein geniales Schattenexperiment, das ästhetisch ein Marianengraben trennt von der normalen Saisonware der immergleichen Geschichten.«
Alexander Cammann, Die Zeit, 16. April 2014
»Reto Hänny paraphrasiert den ›Ulysses‹ von James Joyce und schafft ein Werk von eigener musikalisch-poetischer Kraft. Man lernt mit diesem Buch neu lesen.«
Roman Bucheli, NZZ, 29. März 2014
»Wie Joyce schildert Hänny in seinem Buch die kognitive Irrfahrt eines Jedermenschs in den bewegten Untiefen der alltäglichen Ereignislosigkeit. Spielerisch leichtfüssige, zynisch scharfe Schneckenhaussatzstücke winden sich immer enger um ein Detail ... Ein Genuss.«
Anja Conzett, Südostschweiz, 28. Februar 2014
»Kein Autor hat seine LeserInnenschaft so herausgefordert und KollegInnen derartig inspiriert wie James Joyce. Nun hat auch der Zürcher Schriftsteller Reto Hänny ein ›Süppchen‹ damit zubereitet - ein ganz besonderes. Dem Bloom seiner Joyce-Adaption folgt man gebannt.«
Ulrike Baureithel, WOZ, 20. Februar 2014