Frauen
Der Romanerzähler lebt in einer Männergesellschaft. Männer, ihre Geschichten, ihre Rituale, ihr Überleben und Sterben sind sein Stoff. Dennoch begegnet uns gleich am Beginn des Romans eine Frau, Lana Bykowa. Sie ist so etwas wie eine mütterliche Freundin des Erzählers, Lanotschka, wie er sie zärtlich nennt, »eine kleine Dicke von laut Ausweis dreiundvierzig Jahren, meine Chefin beim Kollationieren der Papiere des Parteiarchivs«. Mit ihr und einem Dutzend Frauen, Türkinnen, Armenierinnen, Russinnen, Jüdinnen, sitzt er in der Korrekturabteilung der Druckerei. Lana Bykowa war er als Kind begegnet, sie hatte den heulenden Knaben in der Banja Fantasjia getröstet.
Von welchen Frauen spricht der Erzähler, der manchmal das Alter Ego des Autors ist?
Frauen bestimmen nicht die Handlung, spielen keine Hauptrolle, ihr Auftreten ist an den Erzähler geknüpft. Die männlichen Figuren sind frauenlos, erzählen auch keine Frauengeschichten, keine Liebesabenteuer. Einzig Großvater Issaj Gleser reist zu Beginn des Romans gemeinsam mit seiner Frau, aber deren Spuren verlieren sich später. In dieser Ehe dominiert Issaj, auch wenn Bella ein wenig Widerstand leistet und sich den Pelz im »proletarischen« Baku nicht ganz verbieten lässt. Sie überlebt ihren Mann um ein Vierteljahrhundert und gewinnt ihr späteres Selbstwertgefühl aus professionellem Kranksein.
Zwei Frauengestalten seien ausgenommen. Jene bereits erwähnte Lana Bykowa (sie kapituliert letztendlich vor ihrer Mutter, verzichtet auf die Heirat mit ihrem Matrosen aus Baku, ihren Traum vom Studium des klassischen Altertums hatte sie ohnehin nach dem Tod des Vaters fahren lassen müssen) – und Walentina, aus einem Kloster im Norden kommend, aus dem sie verwiesen wird. Sie will nach Süden, nach Transkaukasien, nach Slawjanka, in das Dorf der Duchoborzen. Doch die Sehnsucht treibt sie weiter, so findet sie Unterschlupf bei den Mützenmachern in der »Metropole der Mohammedaner«. Ihnen dient sie wie ein Engel. Ihr Vergnügen findet sie im Besuch der Gladiatorenkämpfe und des Kinos, als Verehrerin Rudolph Valentinos, so sich ein paar mädchenhafte Sehnsüchte erhaltend. Walentina scheint die einzige Frauenperson zu sein, die von vornherein ein halbwegs selbstbestimmtes, wenn auch bescheidenes Leben führt.
Die geheimnisvollste Frauenfigur ist zweifellos Schelale. »Mit glänzenden, nach hinten gekämmten Haaren, mit südlichem blassen Gesicht, auf dem die nachgezogenen Lippen, die Pfeile der Brauen und die großen, zur Nasenwurzel hin schräg gestellten Augen der Nil-Fresken hervorstachen, man hatte den Eindruck, diese Augen würden beim Schnitt der Nüstern zusammenfließen, – sie war so klar in ihrer Haltung und Verkrümmung, in den Launen der Nachlässigkeit und dem explosiven konvulsivischen Behaupten, sie hätte irgendein Priesteramt ausüben können, aber war … Ich wusste nicht, wer diese, eine Papirossa nach der anderen rauchende, das Gleichgewicht auf den Pfennigabsätzen verlierende Dame von circa vierzig Jahren war.«
Achmed, ein somnambuler Dagline vom Parapet, Tänzer, Spanier genannt, Sohn eines als Bürgerkriegskind in die Sowjetunion gekommenen Spaniers und einer träumerischen Mutter, die Briefe an Filmschauspieler schreibt und unter die Straßenbahn kommt, worauf der Vater, die aufgefundenen, nie abgeschickten Briefe liest, über die Erniedrigung nicht hinwegkommt und sich erhängt, dieser Achmed erzählt bruchstückhaft die Geschichte Schelales.
Schelale, als Prostituierte zum Parapet gekommen, gewinnt Einfluss auf den »Ältesten«, den Anführer der Daglinen, und erneuert deren in Vergessenheit geratenes Totengedenken. Fortan tragen die Männer ein Porträt Verstorbener am Revers. der Trauerkodex bestimmt, am Donnerstag die Hinterbliebenen zu besuchen, drei Tage davor und zwei Tage danach Enthaltsamkeit zu üben. Der bis Sonntag aufgestaute Trieb ist kaum zu stillen, zumal die Parapet-Frauen für die Daglinen tabu sind. So ruft man in die Banja Fantasija und Schelale schreitet zur Waschung.
»Sie beugte sich herunter und begann mit den Füßen, … wusch rechts und links die Schenkel, die Hüften, die festen Bauchmuskeln, die lockige Brust … Auch der Unterleib wurde bearbeitet. Schwamm und Bastwisch weggelegt. Die bloße Hand, die eingeseiften nackten Finger, immer da, omnipräsent, wie die Theosophen sagen würden … Sie wusch alle. Samen wurde nicht ausgeworfen, es war, als wäre er weg. Es gab keinen Erguss, der aufsässige, nie Ruhe gebende, transsubstanzielle Samen verschwand, löste sich auf, beunruhigte nicht mehr … ist für ein halbes Jahr weg. So die Wirkung des Elixiers mit Namen Schelale.«
Waschung und Befriedigung der Bedürftigen. Die Prostituierte wird zur Heiligen, Schelale wird zum homo religiosus.
Der Erzähler spricht auch gern, ausführlich und sehr solidarisch von den Prostituierten auf dem Parapet, vom banalen, profanen Alltag, von Überlebenskampf, erzählt von exotischen Frauen wie der von ihren Geschlechtsgenossinnen ermordeten Uigurin, die es umsonst macht, oder der Ingenieurin, der Gagaúsin mit den Goldzähnen, Frauen aus dem Heer der etwa 16.000 Arbeitslosen Mitte der zwanziger Jahre in Baku, damals noch eine Stadt ungezügelten, erbarmungslosen Lebens und Überlebens, mit Pogromen, Streiks (wie der Eisenbahner, die zu Zehntausenden in Waggons am Rand der Stadt hausten), gnadenloser Ausbeutung der heruntergekommenen Ölquellen.
Der berüchtigte Waggon 17 am Eisenbahnknotenpunkt Sabrat II, »von den Gleisen gehoben, stand er abseits, bei einem Haufen Schwellen, im hohen Unkraut, im Vergleich zum schäbigen Exterieur war das Innere komfortabel: Plüschsofas, Frottiertücher, Spucknäpfe aus tschechischem Glas«, erwies sich für die Frauen auch nur als Täuschung.
Auch von russischen Prostituierten in Tel Aviv wird erzählt. In »Aspekte einer geistigen Ehe« beobachtet er in »Das Haus in der Gasse« ein Bordell. Er bedauert seine russischen Schwestern, die so weit gefallen sind.
Wenn azerische Männer von den Prostituierten sprechen und mit ihren Erfolgen in der Clique prahlen, meinen sie stets die Russinnen, die russischen Schlampen, deren Bestimmung es ist, billig zu sein. »Das standardisierte Laster der Russinnen setzt ihn [den azerischen Mann] auf eine Gerade, die keine Verzückung kennt. Die Türkinnen, wenn sie eine Grenze überschritten haben, stürzen sich in den unwiderstehlichen Abgrund, sie lehnen das Gewöhnliche ab. Mit ihnen ist selbstverständlich, was man bei Russinnen nicht erreicht, die sind im jahrhundertealten Laster zu genormt.«
über seine sexuellen Abenteuer spricht der Erzähler freimütig: jenes, das er auf seinen Instrukteursfahrten mit der Bergfrau erlebt (er erinnert sich nicht einmal an ihren Namen), jenes auf Zypern, ohne das verlassene Famagusta zu sehen, in Paphos. Hier scheint er gefunden zu haben, was ihm in seiner Kindheit das Chirotherium, jene geheimnisvolle Echse, verheißen hatte. Alles ist entspannt. »Russen gibt es in Paphos nicht. Die Bestellung nahm eine Frau mit hervortretenden Backenknochen und runden Brauenbögen entgegen – braune krause Haare, feuchte Lippen …«, und während der Erzähler sie taxiert, Alter, Brustmaße und so weiter, lächelt sie, »es geht auch russisch«. Das Abenteuer beginnt, wird ausreichend, auch derb erzählt, eine Russin, die hier für die Familie »anschafft«, es endet schal. Es endet ohne Kommentar des Erzählers.
Diese im letzten Kapitel zu lesende Episode benötigt keinen Kommentar mehr, der Erzähler hat ausreichend seiner Meinung zu Frauen, über die er schreibt, denen er begegnet ist oder mit denen er im Bett war, Raum gegeben. In der Geschichte von der »Beinah-Heirat« mit einer gleichaltrigen Jüdin, Absolventin des Fremdspracheninstituts, die, wie der Erzähler für seine Begriffe zu spät merkt, lediglich von ihm entjungfert werden will (»Frauen leben sich in das, was sie sagen, ein und spielen es«) und die für ihn den »äußerst seltenen Typus der dominanten Masochistin« darstellt, meint er der Überlegene zu sein. Auch mit Frauen wie Swetik, die ihm vom Grünzeughändler vermittelt wird, käme er zurecht. Bei einer wie der Verkäuferin, die ihm einen Wasserkocher vorführt, eine hocherotische Szene, die nur aus Gesten und Blicken besteht und seinem schmerzhaft brennenden Glied, verlässt er als Versager die Szene.
Der Autor Alexander Goldstein ist ein hochintellektueller Typ, angefüllt mit Kenntnissen und Weisheiten unzähliger Bücher der Welt. Seine Erfahrungen mit Frauen, sein Wissen und Verständnis, sein Frauenbild, das er dem Erzähler (oft sein Alter Ego) in den Mund legt, zeichnen einen Macho, sozialisiert in einer südlichen patriarchalischen Männergesellschaft, durchwuchert von Sowjetmoral.
Offenbar arbeitet Goldstein hier auch eine Erbschaft des »Imperiums« ab. Er entledigt sich einer Haut, die ihm zu eng geworden ist, die von ihm abfällt. In den zwei Büchern, die er nach »Famagusta« geschrieben hat, ist von diesem Erbe, vom Schaum der Jugend kaum noch etwas zu spüren. Der Blick auf die Frauenfiguren im 500-Seiten-Roman »Famagusta« reduziert das grandiose Panoramabild von einer Epoche nicht auf Erotik und Geschlechterverhältnisse, es ist Teil sinnlichen Erzählens, wovon die Männer profitieren und Konturen gewinnen.
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